Digitale Therapien: Dr. Smartphone will dich heilen

Nr. 40 –

Ob Depression, Angststörung oder Burn-out: Viele Apps versprechen rasche Hilfe bei psychischem Leid. Das Geschäft boomt, aber was taugen diese Therapien wirklich?

Illustration: Kopf in abstrakter Form mit leeren farbigen Sprechblasen darin

Die US-Sportlerin Simone Biles ist die erfolgreichste Kunstturnerin aller Zeiten. Mit bereits fünf olympischen und 25 Weltmeisterschaftsmedaillen startete sie als klare Favoritin an den Olympischen Sommerspielen  2021 in Tokio. Doch am Turnier zog sie sich aus den meisten Wettkämpfen zurück. Der Grund: eine psychische Blockade.

Nach den Spielen sprach Biles offen über ihre psychischen Beschwerden. Das trug ihr viel Lob ein – und eine Partnerschaft mit «Cerebral». Das 2020 gegründete Start-up hat eine Mental-Health-App entwickelt: eine Anwendung für Smartphone und Computer, mit der psychische Erkrankungen und Beschwerden ganz einfach digital therapiert werden. «Cerebral» hat bislang über 460 Millionen Dollar an Investmentkapital erhalten, der Wert des Unternehmens wird auf 4,8 Milliarden Dollar geschätzt. In kurzer Zeit hat sich «Cerebral» als grosser Player im rasant wachsenden Markt derartiger Apps positioniert.

Das Problem bist du

Weltweit leiden über zehn Prozent der Bevölkerung an einer oder mehreren psychischen Erkrankungen, in der Schweiz sind es gar etwas über siebzehn Prozent. Zwischen 1990 und 2019 ist die Anzahl an Lebensjahren, die infolge psychischer Krankheiten beeinträchtigt wurden oder verloren gingen, weltweit von rund 80 Millionen auf über 125 Millionen gestiegen. In vielen westlichen Ländern müssen Menschen, die sich eine private Psychotherapie nicht leisten können, oft mehrere Monate auf eine Behandlung warten – Monate der Hilflosigkeit, in denen sich das Leid verstärken kann.

Unter diesen Bedingungen versprechen Mental-Health-Apps unkompliziert Besserung. Über die digitalen Therapien am Smartphone oder am Computer werden Versorgungslücken zumindest ein Stück weit geschlossen, und alle, die psychisch leiden, können schnell zu Therapieangeboten kommen. Das klingt gut. Bloss: Die wenigsten Mental-Health-Apps können nachweisen, dass ihre Anwendung tatsächlich eine Wirkung erzielt.

Der saloppe Umgang mit Belegen für Wirksamkeit ist symptomatisch für die Branche.

Im Jahr 2021 wurden weltweit rund 380 Milliarden US-Dollar für die Behandlung psychischer Erkrankungen ausgegeben. Im Vergleich dazu wirkt der geschätzte Umsatz von Mental-Health-Apps im Jahr 2021 von rund 500 Millionen bis 4 Milliarden US-Dollar zwar bescheiden, aber der Trend zeigt klar nach oben. Die Apps funktionieren im Wesentlichen nach zwei Modellen: Entweder sind sie komplett automatisiert, mit Tagebuchfunktion und Anleitungen für Übungen und Aktivitäten, oder sie bieten digitalen Austausch mit menschlichen Therapeut:innen an – in schriftlichen Chats, gegen Aufpreis auch in (Video-)Anrufen, reagieren diese auf Anliegen. Voll automatisierte Apps sind in der Regel deutlich günstiger, aber der Markt wächst für beide Varianten stark. Die meisten dieser Apps basieren auf kognitiver Verhaltenstherapie und zielen letztlich auf Selbstoptimierung: Das Problem bist du. Strukturelle Gründe, die psychisches Leid verursachen oder verstärken können – soziale Ungleichheit oder materielle Not –, blenden sie komplett aus.

Durchzogene Bilanz

Dennoch: Dass die Apps grundsätzlich positive Effekte haben können, ist durchaus plausibel. Bereits in den Anfängen der Forschung zu digitalen psychotherapeutischen Interventionen in den neunziger Jahren wurden Verbesserungen bei den Patient:innen festgestellt. Zudem zeigen aktuelle Übersichtsstudien, dass manche Mental-Health-Apps vor allem bei Depression hilfreich sein können.

Jede Mental-Health-App verspricht vollmundig therapeutische Erfolge, aber den Nachweis für diese Behauptungen bleiben viele Anwendungen schuldig. In zwei grossen Übersichtsstudien von 2018 und von 2022 wurde die verfügbare Evidenz für Dutzende von Mental-Health-Apps untersucht – mit sehr durchzogener Bilanz: Für die behauptete Wirksamkeit der meisten Apps gebe es keinen überzeugenden empirischen Nachweis.

Der Umgang mit Wirksamkeitsnachweisen ist bei vielen gar problematisch, wie etwa das Beispiel von «BetterHelp» zeigt, mit über drei Millionen Nutzer:innen eine der beliebtesten Apps im angelsächsischen Raum. Auf der Website von «BetterHelp» wird als Beleg für die Wirksamkeit der App eine einzige Studie von 2019 zitiert. Doch in dieser wurde lediglich eine Therapie gegen Depression untersucht, nicht die Therapien für zahlreiche andere Erkrankungen und Beschwerden, die «BetterHelp» ebenfalls anbietet. Zudem haben zwei der fünf Autor:innen der Studie direkte finanzielle Verbindungen zu «BetterHelp» – ein direkter Interessenkonflikt, wie er regelmässig zu verzerrten Ergebnissen führt.

«Cerebral» wiederum, das grosse Start-up, bei dem Simone Biles mitwirkt, weist auf seiner Website zwar einen Abschnitt zur Forschung aus. Dort findet sich aber keine einzige wissenschaftliche Studie. Stattdessen werden sogenannte White Papers zur Lektüre angeboten, in denen das Unternehmen betont, dass die App hochwirksam sei. Keine der Behauptungen wurde in einem wissenschaftlichen Peer-Review-Verfahren geprüft. Die angebotenen Dokumente von «Cerebral» sind eine Form von Pseudowissenschaft: Marketing, das so verpackt wird, dass ein Anschein von Wissenschaftlichkeit entsteht.

Dieser saloppe Umgang mit Belegen für Wirksamkeit bei «BetterHelp» und «Cerebral» ist symptomatisch für die Branche. Im Dschungel digitaler Therapieversprechen ist schwer zu erkennen, welche Angebote seriös sind und nachweislich zu einer Wirkung führen. Ein mögliches Mittel wäre es, Mental-Health-Apps von den Krankenkassen anerkennen zu lassen – in der Hoffnung, dass die Versicherungen die Kosten nur für solche Apps übernehmen, die nachweislich funktionieren.

Ein solches Modell existiert in Deutschland. Je nach Krankenkasse werden unterschiedliche Mental-Health-Apps mit ausgewiesenem Nutzen anerkannt. Doch auch hier ist die Evidenzlage bestenfalls gemischt. Die von einigen deutschen Krankenkassen anerkannte App «MindDoc» etwa bietet Therapien für Depression, Ess-, Angst- und Zwangsstörungen an. Doch in der Dokumentation zur Wirksamkeit der App findet sich nur eine einzige Quelle mit einem direkten Bezug zu «MindDoc»: ein Studienprotokoll, also ein Plan für eine noch nicht abgeschlossene Untersuchung, in dem zudem explizit nicht gemessen wird, ob «MindDoc» bei Depression, Ess-, Angst- oder Zwangsstörungen wirksam ist. Finanziert wird die geplante Studie von «MindDoc», und eine der Autorinnen ist bei «MindDoc» angestellt.

Aussicht auf Megaprofite

Einige Mental-Health-Apps sind in Deutschland als digitale Medizinprodukte klassifiziert und werden von allen gesetzlichen Krankenkassen anerkannt, etwa «Selfapy», eine App gegen Depression, Angst- und Panikstörungen. Aber auch «Selfapy» weist nur eine einzige Studie aus, die zudem von der hinter der App stehenden Firma finanziert wurde; einer der Autoren ist zudem ehemaliger Angestellter des Unternehmens. Eine Zertifizierung von Apps durch Krankenkassen wie in Deutschland führt wohl zu einer kuratierten Auswahl von potenziell wirksamen Anwendungen – aber eine Garantie für Wirksamkeit ist auch dieses Modell nicht.

Im boomenden Markt der Mental-Health-Apps gibt es einen fundamentalen Zielkonflikt: Da ist einerseits das hehre Ziel der Programme, psychisches Leid durch möglichst wirksame Therapien zu reduzieren – andererseits werden die meisten Apps von privaten, profitorientierten Unternehmen betrieben. Apps wie «Cerebral» generieren nicht Abermillionen an Investmentkapital, weil sie sich als besonders wirksam erwiesen hätten; was Investor:innen lockt, ist die Aussicht auf Megaprofite – das nächste Facebook, einfach im Gesundheitsbereich. Gerade hier ist das aber besonders gefährlich, weil es eben nicht um Plattformen für Ferienfotos oder Taxidienste geht, sondern um die psychische Gesundheit von Millionen von Menschen, die die Apps in besonders vulnerablen Lebenssituationen nutzen.

Dieser Zielkonflikt zwischen Profit und Wirksamkeit besteht auch in der Pharmaindustrie, und wie dort liesse sich die Branche stärker regulieren. Wenn eine App therapeutische Versprechen macht, sollten die Betreiber diese Behauptungen belegen müssen. Die klassische, analoge Psychotherapie ist relativ umfassend reguliert. Es gibt keinen Grund, warum das bei der digitalen Variante anders sein sollte.