Flucht und Desertion: Bis wieder Frieden herrscht

Nr. 40 –

Wie schürt man Unsicherheit? Indem man im Ungefähren bleibt. So wie Justizministerin Karin Keller-Sutter, wenn sie über den Schutzstatus S für Geflüchtete aus der Ukraine spricht. Der in der Schweiz ausgestellte Ausweis S ist zwar auf ein Jahr befristet, der Schutzstatus wird aber so lange gewährt, wie die schwere allgemeine Gefährdung anhält.

Am 19. September sagte Karin Keller-Sutter vor dem Nationalrat: «Der Bundesrat verfolgt laufend die Lage in der Ukraine und wird sich vor Ablauf eines Jahres mit einer möglichen Aufhebung des Schutzstatus S befassen müssen.» Um am 21. September zu betonen: «Eine Rückkehr ist nur möglich, wenn die Situation im Herkunftsland stabil und sicher ist. Das Minimum hierfür müsste ein Waffenstillstand sein.»

Eine grosszügige Asylpolitik ist auch ein starkes Mittel gegen Autokraten.

Mit ihrer Wortwahl mag Keller-Sutter das eine Mal die Rechte und das andere Mal die Linke ruhigstellen. Doch wie kommen diese Botschaften bei Ukrainer:innen an? Spricht man ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft in der Schweiz mit ihnen, erfährt man rasch: Die künstlich hergestellte Unsicherheit ist für sie – wie im Übrigen für alle Asylsuchenden – enorm belastend. Dürfen sie bleiben? Müssen sie bald wieder gehen? Auch Vertreter:innen von Kantonen und Städten kritisieren den Bundesrat, dass er nicht für mehr Planungssicherheit sorge.

Keller-Sutter betont gerne, dass sie ihre Politik mit der EU koordinieren wolle. Sie dürfte aber auch ganz profane, finanzielle Gründe für die Zurückhaltung haben: Würde die Schweiz länger Schutz garantieren, wäre der Druck hoch, dass der Bund weitere Unterstützungskosten für Sprachkurse übernehmen müsste. Bisher hat er erst eine bescheidene Einmalzahlung geleistet. Anstatt die Kantone und die Gemeinden bei ihrer grossen Integrationsarbeit aktiv zu unterstützen, schiebt der Bund diese Aufgabe vor sich her. Dass bisher nur elf Prozent der Ukrainer:innen eine Stelle gefunden haben, ist eine konkrete Folge davon. Auch für die Firmen ist unklar, wie lange die Geflüchteten bleiben dürfen.

 

 

Warum also nicht einfach klar und deutlich sagen: «Der Aufenthalt ist auf jeden Fall garantiert, bis wieder Frieden herrscht»? Und überhaupt: Werden viele definitiv bleiben, wenn der Krieg noch lange dauert? Das würde zwar die SVP ärgern, deren Hetzer:innen Thomas Aeschi, Martina Bircher, und Andreas Glarner schon jetzt Rückschaffungen in die angeblich sichere Westukraine fordern. Für alle anderen wäre es ein klares Signal.

Ein Signal, das auch eine Rückkehr zum Kern der Asylpolitik bedeuten würde. In den letzten Jahrzehnten ist sie in ganz Europa von der Paranoia geprägt, jeder Wink mit dem Grenzpfahl habe einen Einfluss auf die Fluchtbewegungen. Doch gerade in der Schweiz, 1848 auch als Nest liberaler Geflüchteter aus ganz Europa gegründet, könnte man sich gelegentlich daran erinnern: Bei einer Asylpolitik, die diesen Namen verdient, kann es nie um Abschottung, sondern immer nur um Offenheit gehen. Um den Schutz vor Verfolgung und Krieg zu gewährleisten, also auch um Dissidentinnen und Deserteure aufzunehmen. Aus Russland oder aus den Kriegen im Nahen Osten und im Globalen Süden.

Doch bei den russischen Kriegsdienstverweigerern bleibt die Schweiz selbst nach Putins Mobilmachung im Ungefähren. Diese könnten in Moskau ein humanitäres Visum beantragen, heisst es aus Keller-Sutters Departement. Als ob Schweizer Botschaften während des Syrienkriegs oder nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan solche Visa nicht fast immer verweigert hätten.

Bei der Verteidigung ihrer viel beschworenen Werte kennen die demokratischen Staaten derzeit nur zwei Antworten: Waffenlieferungen und Sanktionen. Doch ein starkes Mittel gegen Autokratien ist eben auch eine grosszügige Asylpolitik. In der Geschichte sind Diktaturen nicht bloss nach revolutionären Aufständen gefallen. Häufig sind sie auch bei einer Abstimmung mit den Füssen implodiert: wenn die Leute die Möglichkeit hatten, davonzulaufen.