Flucht aus der Ukraine: Es wird eine Riesenaufgabe

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Evakuierung aus Butscha, einer Stadt nordöstlich von Kiew, am 13. März. Foto: Emin Sansar, Getty

Die europäischen Staaten und mit ihnen die Schweiz stehen vor der grössten flüchtlingspolitischen Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Gemäss Uno-Flüchtlingswerk UNHCR haben bisher drei Millionen Flüchtende die Ukraine verlassen. Mehr als die Hälfte von ihnen hält sich zurzeit in Polen auf. Rund 6500 sind in der Schweiz angekommen. Je nach Dauer des Krieges könnten es Zehntausende, ja Hunderttausende werden.

Zum Vergleich: Aus dem Kosovokrieg erreichten 1999 – gemäss Asylstatistik ein «Rekordjahr» – rund 30 000 Flüchtende die Schweiz. Seither hat sich die Zahl, auch wegen der Frontex-Aufrüstung an den europäischen Aussengrenzen, auf ein Minimum reduziert. Nun könnte plötzlich eine andere Politik möglich werden, eine gesamteuropäische Verteilung von Flüchtenden, an der sich auch die Schweiz beteiligen muss.

Womit immer man rechnet, wie viele auch tatsächlich kommen: Zahlen bleiben Zahlen. Hinter ihnen stehen einzelne Menschen, ihre Biografien, Schicksale. Stehen Familien, Freundschaften, Beziehungen. Und derzeit, beim Verlassen der Ukraine wie auch von anderen Ländern: schmerzhafte Trennungen.

Deshalb genügt es nicht, dass der Bundesrat den Schutzstatus S ausruft. Diesen erhalten alle, falls sie über die Staatsbürgerschaft der Ukraine oder über ein Aufenthaltsrecht verfügen, für ein Jahr. Der Status ist geeignet für die unbürokratische Aufnahme. Noch nie angewendet, verstaubt seit zwanzig Jahren, hat er aber grosse Defizite, was die Integration der Geflüchteten in der Schweiz betrifft.

Justizministerin Karin Keller-Sutter vermeidet dieses Wort bisher tunlichst. Denn Integration kostet Geld. Zwar können Flüchtende mit dem Status S arbeiten. Aber sie erhalten, anders als die vorläufig Aufgenommenen mit Status F, keine Integrationspauschale von 18 000 Franken zugesprochen, mit denen etwa Sprachkurse finanziert werden können.

Dabei sind die Lehren aus der Asylgeschichte bekannt. Bei grossen Fluchtbewegungen geht ein Teil der Menschen zurück, ein Teil wird bleiben. Aus politischen Gründen oder weil sie nicht in ein zerbombtes Land zurückkehren können. Zwischen der Schweiz und der Ukraine wird vielmehr ein transnationaler Raum entstehen, wie es ihn etwa zum Kosovo gibt. Die nächste Einsicht: Je länger Personen in einem prekären Status wie S oder F gefangen sind, umso grösser ist die Ungewissheit, gerade für Kinder. Können sie bleiben, werden sie morgen ausgewiesen? Ein befristeter Aufenthalt schränkt die Chancen auf dem Arbeitsmarkt ein – und damit auf ein selbstbestimmtes Leben. Schliesslich: Unterkünfte sind rasch besorgt, doch die Bewältigung von Kriegstraumata dauert lange.

Deshalb braucht es jetzt dringend eine sozialpolitische Offensive. Der Bund muss Kantone und Gemeinden finanziell unterstützen, bei Sprachkursen und psychologischer Betreuung. Frauen sollten vor Missbrauch geschützt werden. Zudem nötig: die Unterstützung der Schulen und der Lehrer:innen, damit alle Kinder ihren Platz finden. Vierzig Prozent der Ankommenden sind Minderjährige. Und schliesslich müssen die gleichen Rechte für Asylsuchende aus allen Ländern gelten.

Denn natürlich ist es unhaltbar, dass Afghan:innen an der Grenze aus dem Zug sortiert werden und Ukrainer:innen passieren können. Natürlich sind Kommentare über Flüchtende, die uns näher oder ferner seien, dümmlich. Darin scheint bloss der antimuslimische Rassismus der Schweizer Migrationspolitik auf, wie er sich schon in der Minarett- oder der Burkainitiative Bahn brach. Und klar ist es für die Engagierten in der Asylbewegung bitter, dass Menschen in Nothilfe oder auch Sans-Papiers einmal mehr vergessen werden.

Und doch öffnet sich ein Fenster der Veränderung. Die Betroffenheit in der Gesellschaft ist gross, die Hilfsbereitschaft enorm. Eine gute Aufnahme der Ukrainer:innen kann erreicht, ein gerechtes Verfahren für alle Asylsuchenden erkämpft werden. Dafür braucht es politischen Druck und noch mehr praktische Arbeit. Fluchthilfe eben, im besten Sinn des Wortes.