Ukrainer:innen in der Schweiz: Das grösste Hindernis ist die Sprache

Nr. 40 –

Die Unsicherheit über den Aufenthalt wird zum Dauerstress: Eine Begegnung mit geflüchteten Ukrainer:innen, die wir nach ihrer Ankunft vor einem halben Jahr erstmals getroffen haben.

Olena Medianik, Iryna Petrychko, Tetiana Kleba mit Tochter, Oleh Sitiaschenko und Maryna Medianik im St. Galler Solidaritätshaus
Hinter jedem Gesuch steht ein persönliches Schicksal: Olena Medianik, Iryna Petrychko, Tetiana Kleba mit Tochter, Oleh Sitiaschenko und Maryna Medianik im St. Galler Solidaritätshaus.

Wenn Iryna Petrychko den Ort beschreiben muss, an dem sie sich aufhält, oder den Zustand, in dem sie sich befindet, dann antwortet sie: «Auf einer Insel.» In einem Zwischenraum, örtlich und mental, zwischen der Ukraine und der Schweiz. Zwischen Ternopil, wo sie herkommt, und St. Gallen, wo sie seit sechs Monaten lebt, zusammen mit ihren beiden Kindern, die zwölf und acht Jahre alt sind. Der Ehemann lebt weiter in Ternopil, Kontakt halten sie täglich übers Smartphone. «Einen grossen Dank an die Swisscom», sagt Petrychko. Diese ermöglicht kostenlose Anrufe ins kriegsversehrte Land – zumindest bis Ende 2022. «Hoffentlich wird das Angebot verlängert.»

Die WOZ hatte Petrychko vor einem halben Jahr im Asylzentrum Rosenau in Kirchberg getroffen. Es dient als Drehscheibe bei der Zuteilung von Geflüchteten vom Bund über den Kanton St. Gallen zu einer Gemeinde. Auf die Frage, ob sie nochmals zu einem Gespräch bereit sei, sagte Petrychko sofort zu. Und hat an diesem Samstagnachmittag im Solidaritätshaus, einem Treffpunkt für Geflüchtete in St.Gallen, gleich einige Bekannte mitgebracht. Einer von ihnen, Oleh Sitiaschenko, war schon in Kirchberg dabei. Die anderen hat Petrychko erst im Solidaritätshaus kennengelernt.

Im Austausch wird rasch klar: Die Schweiz mag rund 65 000 Ukrainer:innen pauschal mit dem Schutzstatus S aufgenommen haben. Doch hinter jedem Gesuch steht ein persönliches Schicksal, das beeinflusst, wer sich hier wie zurechtfindet – und zurechtfinden kann.

Fehlende Kinderbetreuung

Das grösste Hindernis, darin sind sich alle einig, ist die Sprache. Es ist allerdings je nach Hintergrund unterschiedlich hoch. Iryna Petrychko hat an der Universität Deutsch gelernt. Nun besucht sie zweimal die Woche einen Sprachkurs, um es aufzufrischen. Die Schwierigkeit für die meisten Frauen beim intensiv Deutschlernen sei die oft fehlende externe Kinderbetreuung. «Das sind wir aus der Ukraine nicht gewohnt.»

Mit ihren Deutschkenntnissen ist Petrychko eine Ausnahme. «Die Fremdsprache, die meine Generation in der Ukraine gelernt hat, ist Englisch», sagt Maryna Medianik. Die 33-Jährige kam mit ihrer Mutter in die Schweiz. Sie hat während dreier Monate einen Intensivdeutschkurs besucht. Aber das war zu wenig. «Noch immer übersetze ich im Kopf zuerst von Ukrainisch auf Englisch und dann auf Deutsch.» Wie die meisten Ukrainer:innen steht Medianik vor dem Dilemma, dass sie schnell eine Arbeitsstelle finden möchte, dafür aber meist Deutschkenntnisse nötig sind. Nachdem ihr die Wohngemeinde beschieden hat, fürs Erste keinen weiteren Deutschkurs zu finanzieren, schlägt sich Medianik mit Englisch durch.

«Manchmal fühle ich mich unselbstständig wie ein Kind.»
Iryna Petrychko

Der Zugang zur Sprache, das zeigt sich in der Runde, ist stark von der Generation abhängig. Marynas Mutter Olena ist erleichtert, dass ihre Tochter die Kommunikation nach aussen übernimmt, insbesondere jene mit den Behörden. Sie nimmt dafür in Kauf, nur langsam Deutsch zu lernen. Auch Oleh Sitiaschenko, der bereits über sechzig ist und deshalb als Mann die Ukraine verlassen konnte, will bei den Sprachkursen nicht Jüngeren den Platz wegnehmen. Er verständigt sich per Übersetzungsapp.

Wenig überraschend ist, dass die Kinder am schnellsten Deutsch lernen. Doch wie schnell es geht, erstaunt doch: Bei der ersten Begegnung konnte die Tochter von Iryna Petrychko kaum ein Wort Deutsch. Heute spricht die Zwölfjährige es fliessend und erzählt begeistert von ihrem neuen Hobby, dem Cheerleading für den FC St. Gallen. Wobei auch sie die Sprache bisweilen als ausgrenzend erlebt: «Wenn ich in der Schule ein Wort nicht kenne, kichern die anderen.»

Schwierige Arbeitssuche

Die Ukrainer:innen würden schnell Arbeit finden, Fachkräfte seien gesucht in der Schweiz, hiess es anfänglich. Doch wegen der Sprachbarriere und der fehlenden Kinderbetreuung ist die Sache komplizierter. Iryna Petrychko arbeitet fern von ihrem Beruf als Managerin einige Stunden pro Woche als Klassenhilfe in einem Schulhaus. Maryna Medianik, gelernte Grafikdesignerin, editiert an zwei Tagen Filme für den Schweizerischen Hörbehindertenverband. «Es ist ein Anfang, aber ich würde gerne mehr machen.» Finanziel selbstständig sind beide noch nicht, der Lohn wird von der Sozialhilfe abgezogen.

Weniger schwierig als zu Kriegsbeginn vermutet ist die Unterbringung der Geflüchteten. Petrychko wohnt mit ihren Kindern bei einer Gastfamilie. «Wir haben einen Teil der Wohnung und ein Badezimmer für uns. So kommen wir gut miteinander aus. Dank der Gastfamilie hören die Kinder rund um die Uhr Deutsch», sagt sie. Maryna Medianik kam mit ihrer Mutter zuerst bei ukrainischen Bekannten unter. «Das wurde bald zu eng und führte zu Misstönen.» Sie fanden dann eine Sozialwohnung. «Die Möbel und das Geschirr schenkte uns ein Schweizer Ehepaar.» Oleh Sitiaschenko hat als älterer Mann ein Zimmer in einem Wohnheim mit anderen Geflüchteten erhalten.

«Wir sind der Schweiz zu grosser Dankbarkeit verpflichtet», betont Iryna Petrychko. Doch die Unsicherheit sei belastend. «Wir wissen nicht, in welche Richtung es geht. Manchmal fühle ich mich unselbstständig wie ein Kind.» Für Petrychko ist klar, dass sie in der Schweiz bleiben möchte, solange die Situation in der Ukraine nicht wieder stabil ist. «Die Kinder haben hier mehr Möglichkeiten, eine Ausbildung zu absolvieren.» Auch Maryna Medianik und ihre Mutter wollen angesichts der Zerstörungen bleiben, solange der Krieg andauert. Die beiden kommen aus Saporischschja. Beim Beschuss eines zivilen Konvois sind dort am Freitag dreissig Menschen gestorben. Die Ukraine und Russland geben sich für den Angriff gegenseitig die Schuld.

Dass die Unsicherheit über den Aufenthalt das Hauptproblem für die Ukrainer:innen ist, bestätigen auf Nachfrage auch die Behörden. «Sie beeinflusst alles Weitere, vom Spracherwerb über die Arbeitssuche bis zur Wohnsituation», sagt Claudia Nef vom Verein Tisg, der im Kanton St. Gallen die Unterbringung der Asylsuchenden koordiniert. Die Unsicherheit werde durch die widersprüchlichen Signale des Bundes noch verstärkt. «Das Aufenthaltsrecht beim Schutzstatus S ist auf ein Jahr befristet. Gleichzeitig wissen alle, dass die Ukrainer:innen länger bleiben werden.»

Nicolas Galladé, Präsident der Städteinitiative Sozialpolitik und Vorsteher des Sozialdepartements in Winterthur, pflichtet dem bei. In einem Positionspapier schreibt die Städteinitiative: «Sicherheit bezüglich des Aufenthaltsrechtes fördert die wirtschaftliche Selbständigkeit von Geflüchteten.» Der Schutzstatus S habe Stärken bei der kollektiven Aufnahme von Kriegsflüchtlingen, meint Galladé. Aber auch Schwächen, weil damit keine Unterstützungszahlungen für die Integration verknüpft seien. Bisher hat der Bund eine einmalige Zahlung von 3000 Franken pro Person für den Spracherwerb beschlossen. «Diese Unterstützung muss wiederkehrend sein, um eine Wirkung zu entfalten», fordert Galladé. «Ein bisschen integrieren gibt es nicht.»

Sorge um den Sohn

Mehr Unterstützung bei Sprachkursen ist auch der Wunsch der Ukrainer:innen im Solidaritätshaus – und mehr Arbeitsstellen für Fremdsprachige, bei der sie Deutsch «on the job» lernen können. Beschäftigung sei wichtig, um sich von den Nachrichten aus dem Kriegsgebiet abzulenken. Nachrichten, die nicht abstrakt vom Frontverlauf künden, sondern persönlich sind: Maryna Medianik berichtet vom Schicksal einer Tante, die in den besetzten Gebieten ohne Gas und Licht durchkommen muss – und die die Erschiessung einer Zivilperson durch russische Soldaten erlebt hat. Iryna Petrychkos Mann wurde bisher nicht zum Militärdienst eingezogen, hilft aber im zivilen Widerstand: Als Zahnarzt rüstet er Fahrzeuge aus, die dann als mobile Praxen zum Einsatz kommen.

In der Runde dabei ist auch Tetiana Kleba. Sie ist Mutter von vier Kindern, mit den beiden jüngsten kam sie erst vor einigen Wochen aus Italien an. Einer ihrer Söhne wurde zum Militär einberufen. Sie zeigt ein Foto von ihm in Kampfausrüstung. Derzeit ist er im Donbas stationiert, Nachrichten von ihm erhält sie nur sporadisch. «Die Angst, dass er jede Stunde getötet werden kann, ist sehr belastend für mich», erzählt die Mutter mit stockender Stimme. Doch sei er überzeugt, für die Unabhängigkeit der Ukraine kämpfen zu wollen. Dass der Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg sein muss, daran gibt es in der Runde keinen Zweifel. «Wenn Russland gewinnt, gibt es keine Ukraine mehr. Wenn die Ukraine gewinnt, ist der Krieg zu Ende», meint Iryna Petrychko.

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