Kommentar zu den Wahlen in Brasilien: Ein Horrorszenario

Nr. 40 –

Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair Bolsonaro schnitt bei den Wahlen am Sonntag unerwartet gut ab. Was bleibt seinem linken Herausforderer Lula da Silva nun übrig?

Brasilien schreitet mit den Wahlen vom Sonntag weiter rückwärts. Obwohl der ultrarechte Präsident Jair Bolsonaro nach dem ersten Wahlgang rund fünf Prozent hinter seinem linken Herausforderer Lula da Silva liegt, hat er mit 43 Prozent weitaus besser abgeschnitten, als es die Meinungsforscher:innen vorausgesagt hatten. Für diese stellt der Wahlausgang ein Desaster dar und öffnet rechten Verschwörungsmythen von gefälschten Umfrageergebnissen zugunsten der Linken Tür und Tor.

Auch die Medien müssen sich fragen, wieso sie die Narrative vom weit abgeschlagenen Bolsonaro immer weitergesponnen haben, obwohl dessen Mobilisierungspotenzial auf Demonstrationen im ganzen Land offensichtlich wurde.

Selbst wenn man nach der derzeitigen Wahlarithmetik davon ausgehen kann, dass Lula da Silva im zweiten Wahlgang am 30. Oktober gegen Bolsonaro gewinnen wird, so wird er es mit einem äusserst rechten und widerspenstigen Kongress zu tun bekommen. Viele Abgeordnete und Senator:innen von Bolsonaros Bewegung wurden auf Anhieb gewählt. Sie werden alles daransetzen, jedes Vorhaben von Lula zu torpedieren. Dass zugleich die ersten trans Personen und vier indigene Frauen ins neue Parlament aus 513 Abgeordneten einziehen werden, wird daran auch nichts ändern.

Die Linke ist nicht nur enttäuscht, sie ist regelrecht verstört und verängstigt.

Lula versprach, Brasilien wieder umweltfreundlicher und internationaler zu machen. Er will die Bildung, die Kultur und die Wissenschaft stärken, die Indigenen besser schützen, der Schwarzen und unterprivilegierten Bevölkerung mehr Chancen und Rechte geben. Dabei wird der neue Kongress kaum mitspielen. Die Rechte, die dort den Ton angeben wird, will etwas völlig anderes: den Waffenbesitz weiter erleichtern, noch mehr Militärschulen voller Zucht und Ordnung schaffen, den Amazonaswald rücksichtsloser ausbeuten und die evangelikalen Kirchen stärken.

Für Linke und Progressive ist der Wahlausgang ein Horrorszenario. Sie sind nicht nur enttäuscht, sondern regelrecht verstört und verängstigt. Es ist bereits von der Unregierbarkeit Brasiliens die Rede. Denn selbst für den grossen Kommunikator Lula, der stets von sich sagt, dass er mit allen reden könne, dürfte es schwer werden, mit der bolsonaristischen Rechten in einen Dialog zu treten.

Die Bewegung Bolsonaros gleicht auf erstaunliche Weise jener Donald Trumps in den USA oder den «Querdenker:innen» in Deutschland. Seine Anhänger:innen informieren sich nur noch über eigene, abgeschottete Kanäle, in denen fast täglich neue Verschwörungsmythen gesponnen werden. Sie haben kein Interesse mehr an Kompromissen mit der Gegenseite, die sie als Feind betrachten. Stattdessen provozieren und sabotieren sie.

Die grössten Verlierer:innen der Wahl sind daher auch die moderaten Konservativen. Bolsonaros rechtsextreme Bewegung hat sich auf Kosten des Mitte-rechts-Lagers zu einer politischen Kraft entwickelt, die weder verschwinden wird noch unterschätzt werden sollte.

Lula wird nun versuchen, politisch weiter ins Zentrum zu rücken. Möglich ist, dass er schon bald einen orthodoxen Kandidaten für sein Finanz- und Wirtschaftsministerium vorstellen wird. Er wird sich in den kommenden vier Wochen überlegen müssen, wie er die Enttäuschung der Linken überwinden und Bolsonaros Momentum durchbrechen kann.

Anders als erhofft, bedeutet diese Wahl nicht die Umkehr der zerstörerischen vergangenen vier Jahre. Sie verheisst nichts Gutes für den gesellschaftlichen Dialog. Auch Brasiliens internationale Rolle dürfte weiter leiden: Das Land ist heute durch die rabiate Aussenpolitik Bolsonaros und sein rücksichtsloses Vorgehen im Amazonas so isoliert wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Lula wollte das ändern. Die EU beispielsweise wäre auch sofort bereit gewesen, mit ihm wieder in einen Dialog zu treten, um über den Amazonasschutz sowie das auf Eis liegende Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten zu sprechen. Sollte Lula nun am Ende knapp gewinnen, droht er jedoch innenpolitisch so beschäftigt zu sein, dass die Aussenpolitik nur noch Nebensache sein dürfte.

Viele Wähler:innen haben offenbar keine Probleme mit Bolsonaros Angriffen auf Wissenschaft, Kultur, Umwelt, Bildung, die Indigenen und die Demokratie – im Gegenteil, sie scheinen sie zu befürworten. Man mag sich kaum ausmalen, wohin Brasilien treibt, wenn Bolsonaro in drei Wochen – eventuell mit dem Rückenwind der aktuell positiven Wirtschaftsdaten und dem Momentum des Angreifers – doch noch gewinnen sollte.