Wahlanalyse USA: Noch einmal davongekommen
Die Nichtwahl zahlreicher Trumpist:innen bei den Midterms 2022 bedeutet zwar nicht das Ende des Rechtspopulismus in den USA, doch für die Linke war es eine ausgesprochen gute Wahl.
Am Willen der Rechten, die USA zu einer Art amerikanischem Ungarn zu machen, hat es nicht gefehlt. Ganz unverschämt flirteten die US-Konservativen im Vorfeld der Zwischenwahlen mit Viktor Orbán. Denn dieser hat bereits weitgehend verwirklicht, wovon sie (vorläufig) erst träumen können: eine Scheindemokratie, die im politischen Alltag als nationalistischer Einparteienstaat funktioniert.
Der Rechtsrutsch bei den Midterms ist jedoch ausgeblieben. Die Orbán-Fans in den USA müssen sich mit ein paar pseudoungarischen Enklaven begnügen. Darunter ist immerhin der Bundesstaat Florida mit zwanzig Millionen Einwohner:innen. Prompt gratulierte ein hoher ungarischer Regierungsbeamter dem wiedergewählten Gouverneur Ron DeSantis via Twitter mit dem Hashtag #KeepFloridaFree. Im «freien Florida» hatte DeSantis in seiner ersten Amtszeit sowohl Wahlkreise wie Wahlregister manipuliert; er diskriminierte Minderheiten aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe und ihrer sexuellen Orientierung. Er säuberte Schulmaterial, sogar noch die Mathematiklehrbücher, von vermeintlichen ideologischen Tendenzen. Kurz vor den Midterms verfrachtete er mehrere Dutzend Asylsuchende nach Martha’s Vineyard in Massachusetts, einem beliebten Ferienziel seiner demokratischen Feind:innen – ein zynisches Manöver, um für seine restriktive Einwanderungspolitik zu werben.
Noch in der Wahlnacht machte DeSantis klar, er wolle 2024 Präsident werden, sein Kampf habe gerade erst begonnen. Eine Woche später lancierte Donald Trump offiziell seine erneute Kandidatur. Die Republikaner:innen sind offenbar bereit, bei der nächsten Präsident:innenwahl nochmals mit einem trumpistischen Kandidaten anzutreten. Zur Auswahl stehen bislang das ausgeleierte Original und ein um Jahrzehnte jüngerer und weniger cholerischer Vertreter des gleichen Rechtspopulismus.
Ohne Sturm ins Kapitol
Die US-Demokratie ist noch einmal davongekommen. Joe Bidens Regierungspartei schnitt so gut ab wie letztmals der republikanische Präsident George Bush bei den Midterms 2002, ein Jahr nach dem Terroranschlag vom 11. September. Die demokratische Mehrheit im Senat ist gesichert. Die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus wird vermutlich hauchdünn sein. Die extremsten Antidemokrat:innen wurden abgestraft. Doch in mindestens einem Dutzend Bundesstaaten werden in Zukunft sogenannte «election deniers», die die Niederlage von Donald Trump noch immer leugnen, die Wahlen beaufsichtigen. Und im Repräsentantenhaus gibt es neu mindestens zwei Abgeordnete, die am Sturm aufs Kapitol beteiligt waren. Sie sitzen neben Ratskolleg:innen, die an jenem 6. Januar 2021 um ihr Leben fürchteten. Und sie werden im selben Saal debattieren wie die progressive Fraktion der Demokrat:innen, die um vier Sitze angewachsen ist und bald zwölf Mitglieder zählt.
Ron DeSantis machte noch in der Wahlnacht klar, er wolle 2024 Präsident werden.
Wie jeder Wahlgang der letzten Jahrzehnte haben die Midterms die unversöhnliche Zweiteilung der USA dokumentiert und womöglich noch verschärft. Das zeigt beispielhaft das Thema «Recht auf Abtreibung». Seit dem Entscheid des Obersten Gerichts vom letzten Juni wird der Zugang zum Schwangerschaftsabbruch in den USA wieder wie vor «Roe vs. Wade» 1973 föderalistisch geregelt.
In sechs Bundesstaaten konnten die Bürger:innen seit dem Sommer direkt über diese Frage abstimmen. Und überall, das heisst in Kansas, Kalifornien, Kentucky, Michigan, Montana und Vermont, sprach sich die Mehrheit für die Erhaltung des Rechts auf den eigenen Körper aus. Anders in Florida, wo die Republikaner:innen ihre Übermacht ausgebaut haben. Hier plant das rechtskonservative Parlament bereits eine Verschärfung des bereits bestehenden Abtreibungsverbots. Ungewollt Schwangere leben heute nicht mehr in den Vereinigten Staaten, sondern in einer von zwei ganz unterschiedlichen Welten: Entweder wohnen sie in einem demokratisch regierten Bundesstaat, der ihre Rechte anerkennt. Oder aber sie stehen unter republikanischer Herrschaft, die ihnen die reproduktive Selbstbestimmung verweigert.
Das ist eben doch Amerika
Extreme Polarisierung ist nichts Neues in dieser Nation, die von Anfang an, seit der Zeit der Kolonialisierung und der Sklaverei, tiefe Widersprüche in sich birgt. Noch im Zweiten Weltkrieg kämpften die USA in Europa für die liberale Demokratie, während sie gleichzeitig im Landesinnern ein undemokratisches und brutales Apartheidsystem duldeten. Ausschluss und Abgrenzung stehen auch im Zentrum des trumpistischen Weltbilds. Die Gewalt der radikalen Rechten trifft einmal mehr «die anderen»: Migrant:innen, ethnische Minderheiten, LGBTQ und Frauen, sowie alles, was in ihren Augen links ist.
In der Geschichte der USA spielt politisch motivierte Gewalt eine vergleichsweise grosse Rolle. Doch bis heute werden die wiederkehrenden Gewaltausbrüche als bedauerlicher «Ausnahmezustand» verharmlost. «Das ist nicht das Amerika, das ich kenne», klagte Joe Biden nach dem Sturm aufs Kapitol. Nicht zum ersten Mal. «Wir sind besser als das», sagte er auch, als Donald Trump im Sommer 2018 an der Südgrenze zu Mexiko mit Gewalt Kinder von ihren Eltern trennen liess. Und wieder kurz vor den Midterms, als ein verirrter QAnon-Kämpfer mit dem Hammer auf Nancy Pelosis betagten Ehemann losging. Der Schwachpunkt dieser beschwichtigenden Aussage ist, dass viele benachteiligte Minderheiten diese dunklere Seite der USA sehr wohl kennen: Sie haben erfahren, mit welcher Gewalt das herrschende politische und ökonomische System über ihr Leben bestimmt.
So viel ist in den letzten Jahren passiert: der grosse Frauenmarsch; die Nazis in Charlottesville; Amtsenthebungsverfahren; die Ermordung von George Floyd; Black Lives Matter; die Coronapandemie mit mehr als einer Million Toten; die Lüge von der gestohlenen Wahl. Und so wenig hat sich in den Köpfen der US-Amerikaner:innen – oder jedenfalls an ihrem Wahlverhalten – geändert. Politolog:innen nennen dies eine Verkalkung des politischen Systems. Trotz aller Turbulenzen verlaufen die nationalen Wahlen nach dem immer gleichen Muster: Die eine Hälfte der Bevölkerung stimmt rechts, die andere links der Mitte. Daran hat sich auch bei den Midterms nur wenig geändert. Dieses wenige jedoch, die parteienübergreifende Sorge um den demokratischen Prozess, hatte einen grossen Einfluss auf das Wahlresultat.
Braucht es mehr Linkspopulismus?
Viel wichtiger als die selten gewordenen Wechselwähler:innen waren für die Wiederbelebung der verkalkten Demokratie allerdings die zahlreichen Neuwähler:innen. Ohne Mobilisierung macht rund die Hälfte der US-Bevölkerung im stimmfähigen Alter von ihrem politischen Recht nur selten oder nie Gebrauch. Doch dieses Mal hatten attraktive Kandidat:innen und wichtige Sachgeschäfte wie die Abtreibungsfrage ausserordentlich viele junge Menschen und Frauen an die Urne geholt, die den Kongress repräsentativer und inklusiver gemacht haben.
Wähler:innen werden dann dazugewonnen, wenn sie sehen, dass die Wahl oder die Abstimmung sie etwas angeht, dass es eine Partei oder eine Bewegung gibt, die sich für sie einsetzt. Faiz Shakir, ein Berater im Team von Bernie Sanders, plädierte noch in der Wahlnacht für einen fundierten Linkspopulismus. Er sagte, die Demokrat:innen müssten die gerechtfertigte Unzufriedenheit eines Grossteils der Bevölkerung ernst nehmen – und wo möglich umlenken. Sein Beispiel: Schlecht behandelte Angestellte können ihren Frust mit Geschimpfe über Wokeness und Sensitivitätstraining im Betrieb abreagieren. Sie können sich aber auch gewerkschaftlich organisieren und bessere Arbeitsbedingungen für alle erstreiten. Vielleicht ist das ein Ansatz, der nicht nur im Betrieb, sondern auch in der Politik eine linke Zukunft hat.