Abdulrazak Gurnah: Im trauten Heim
In «Nachleben» verknüpft der Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah den deutschen Kolonialismus in Ostafrika mit einer Erfolgs- und Liebesgeschichte. Der Roman ist bemerkenswert missraten.
Der Rassismus spaltet Gesellschaften mehrfach. In der deutschen «Schutztruppe», die um 1900 herum Deutsch-Ostafrika als Kolonie sichern sollte, gab es nicht nur die kleine Herrenkaste der deutschen Offiziere. Auch die aus Einheimischen rekrutierten Soldaten, die sogenannten Askari, fühlten sich den einheimischen Lastenträgern überlegen. Die Askari galten als besonders grausam auch gegenüber der Zivilbevölkerung, ein Ruf, den sie als Ehrentitel begriffen und dem sie gerecht zu werden versuchten.
Der brutale deutsche Kolonialismus in Südwestafrika, insbesondere der Völkermord zwischen 1904 und 1908 an den Herero und Nama, ist zögerlich aufgearbeitet worden, im Roman «Morenga» (1978) von Uwe Timm etwa, dann in den vergangenen Jahren im Hinblick auf Reparationszahlungen. Die Kolonialherrschaft in Ostafrika, im Gebiet des heutigen Tansania, Burundi und Ruanda, ist weniger bekannt, obwohl durch die Niederschlagung der Maji-Maji-Bewegung von 1905 bis 1907 ebenfalls etwa 100 000 Menschen starben. Abdulrazak Gurnah beschreibt diese Schreckensherrschaft anhand einheimischer Hauptfiguren, Ilyas und Hamza, die beide in ihrer Jugend als Askari kämpfen. Hamza verpflichtet sich als Siebzehnjähriger, um der Leibeigenschaft bei einem Kaufmann zu entkommen und weil ihm der Kriegsdienst Unabhängigkeit, Sicherheit und womöglich eine Identität in einer Gemeinschaft verspricht. Dabei gerät er in neue brutale Hierarchien. Doch ein deutscher Offizier ernennt ihn zu seinem Burschen und erteilt ihm als persönliches Erziehungsprogramm Deutschunterricht.
Vielfältig gespalten
Im Ersten Weltkrieg bekämpfen sich die Kolonialmächte Deutschland und England auch in Afrika. Nach anfänglichen Erfolgen wird die «Schutztruppe» dezimiert, zieht sich, von englischen Truppen gejagt, nach Süden zurück als verzweifelter, plündernder und mordender Haufen.
Verknüpft mit den in den Kolonialismus verstrickten Lebensläufen, schildert Gurnah Schicksale in den ihrerseits sozial vielfältig gespaltenen Gesellschaften in Ostafrika. Insbesondere die Familie ist ebenso Schutz wie Gefängnis oder Ort der Ausgrenzung. So wird Afiya, die kleine Schwester von Ilyas, nach dem Tod der Eltern zu einem Onkel gegeben, der sie misshandelt. Vom Bruder kurzfristig zu sich geholt, muss sie, da sich Ilyas der «Schutztruppe» anschliesst, wieder zum Onkel zurückkehren. Schliesslich bietet ihr Ilyas’ Jugendfreund Khalifa ein neues Zuhause. Khalifa macht in einer Import-Export-Firma eine moderate Karriere, was Einblicke ins ostafrikanische Handels- und Kaufmannsmilieu erlaubt. Zuerst wird er von seiner Frau Bi Asha unterstützt, doch wird diese zunehmend verbittert und eifersüchtig auf die Heranwachsende.
Informativ und zuweilen erhellend, zweifellos. Aber erzählt wird dies in einer Prosa, die vor sich hinplätschert, platt und glanzlos, durchsetzt von Figurenmonologen, die Hintergrundwissen nachliefern, ohne den Sprachgestus der Redenden zu differenzieren, und von historischen Einschüben des Erzählers, die kaum Wikipedia-Niveau erreichen.
Ja, dieses jüngste Buch des letztjährigen Nobelpreisträgers Gurnah ist bemerkenswert missraten. Angesichts der zuweilen traumatischen Lebensgeschichten fehlt den Figuren die Tiefe. Jeder Gemütszustand wird sogleich mit dem passenden Adjektiv nach aussen gekehrt. Charaktere entfalten sich nach dem immer selben Mechanismus: Hinter einem ersten Charakterzug kommt ein anderer, treffenderer hervor. Mürrisch, aber herzensgut. Hoffnungsvoll, aber enttäuscht. Zurückhaltend, aber verlässlich. Schüchtern, aber selbstgewiss.
Bemerkenswert ist das Buch nicht zuletzt in der Haltung zu den aufeinanderprallenden Kulturen. Die britische Kolonialherrschaft mag nicht ganz so brutal gewesen sein wie die deutsche, aber muss uns deshalb versichert werden, sie habe ihre selbstdeklarierte zivilisatorische Aufgabe verdankenswert erfüllt? Oder dann: Als Bi Asha erkrankt, muss sie zuerst durch einige schnöde geschilderte einheimische Quacksalbereien hindurch, bis ihr in einem europäischen Spital Krebs diagnostiziert wird, was sie freilich auch nicht zu retten vermag.
Schnell hingeworfen
Wenn sich die erste Hälfte des Buchs noch mit den Verheerungen des Kolonialismus auseinandersetzt, so beginnt mit der zweiten Hälfte eine gradlinige Aufstiegs- und Liebesgeschichte. Der traumatisierte, von zwiespältigen Gefühlen gegenüber seinem früheren deutschen Meister und Mentor heimgesuchte Hamza baut sich mit der Hilfe Khalifas eine neue Existenz als Schreiner auf, und es kommt, wie es nicht kommen müsste: Er und Khalifas Patentochter Afiya entbrennen in Liebe zueinander, heiraten und verbringen glückliche Tage. Gefährdete Identitäten zwischen den Kulturen versteinern im trauten Heim.
Auf den letzten zwanzig Seiten hängt Gurnah die Suche von Hamzas Sohn nach dem Verbleib seines Onkels Ilyas an: Der war 1929 nach Deutschland ausgewandert und 1942 im KZ Sachsenhausen umgebracht worden. Diese schnell hingeworfene «Recherche» soll wohl den Titel «Afterlives» («Nachleben») rechtfertigen. Wie gesagt, ein bemerkenswertes Buch.
Der Autor ist am Mittwoch, 19. Oktober 2022, um 19.30 Uhr im Literaturhaus Zürich zu Gast.
Abdulrazak Gurnah: «Nachleben». Aus dem Englischen von Eva Bonné. Penguin Verlag. München 2022. 382 Seiten. 37 Franken.