Hilfsmittel für Sehbehinderte: Vom Verband aus dem Markt gedrängt

Nr. 41 –

Der blinde Unternehmer Stefan Hofmann führte in Winterthur ein eigenes kleines Geschäft. Damit ist nach fünfzehn Jahren Schluss. Die Geschichte einer Exklusion.

Stefan Hofmann
Die Verbände sollen beraten, aber nicht selber eine Firma unterhalten, findet Stefan Hofmann. Inzwischen ist er aus dem Blindenbund ausgetreten.

Am kommenden Samstag ist der Tag des weissen Stocks. Der «weisse Langstock» wurde vor bald hundert Jahren erfunden, weil Blinde und Sehbehinderte dem zunehmenden motorisierten Verkehr schutzlos ausgeliefert waren. Im digitalen Zeitalter gibt es neue Instrumente, die Blinden helfen, durch die Welt der Sehenden zu navigieren.

Stefan Hofmann hat sich mit seiner Firma «Tools4theBlind» auf Hilfsmittel für Blinde spezialisiert. Ende September musste er sein Geschäft dichtmachen. Sein ehemaliges Ladenlokal liegt unweit des Winterthurer Bahnhofs. Beim ersten Treffen vor einigen Wochen stehen im Showroom noch einige grosse Bildschirme, Tastaturen und diverse Gadgets.

«Als kleiner Unternehmer hatte ich keine Chance, neben dem Verband zu überleben.»
Stefan Hofmann

Hofmann erklärt die Tools. Da wäre zum Beispiel das Lesegerät: Man kann ein Buch darunterlegen, der Text wird massiv vergrössert und auf einen Bildschirm projiziert. Daneben steht eine Braillezeile, das ist eine spezielle Tastatur, die digitale Texte in Brailleschrift übersetzt, damit Blinde sie mit den Fingerkuppen lesen können. Blinde lassen sich Computertexte gerne von einem Screenreader vorlesen (siehe WOZ Nr. 35/22). Doch wenn sie selber schreiben, braucht es die Braillezeile, damit sie zum Beispiel Schreibfehler erkennen können.

Hofmann führt nach hinten in sein Büro und setzt sich an den grossen Tisch. «Sie haben einen ganz bösen Blinden vor sich», sagt er gleich zu Beginn, lacht fröhlich und beginnt zu erzählen. Jetzt, wo sein Geschäft nicht mehr existiere, könne er frei reden und müsse auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Es gebe viel zu viele Sehende, die letztlich von den Blinden lebten, sagt er. Er klingt nicht frustriert, aber ernüchtert.

Sehende, die Blinde spielen

Hofmann ist 53 Jahre alt. Als Kind hatte er im Haushalt mitzuhelfen wie sein sehender Bruder auch. Sein Vater brachte ihm das Skifahren bei, mit seinem Bruder machte er verrückte Ausflüge. Er lernte Klavierbauer und hatte sein eigenes Geschäft. Parallel dazu gründete er Tools4theBlind, «weil es für Blinde hilfreicher ist, wenn sie beim Kauf von Hilfsmitteln von jemandem beraten werden, der die Geräte selber nutzt, und nicht von Sehenden, wie das immer noch meist der Fall ist». Nach einem Verkehrsunfall musste er seinen Pianoservice aufgeben und konzentrierte sich fortan ganz auf Tools4theBlind. Jetzt ist nach fünfzehn Jahren Schluss.

Der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen (SZBlind) ist die Dachorganisation aller Institutionen, die mit Blinden oder Sehbehinderten arbeiten. Die aktuelle Plakatkampagne «Wir Blinden sehen anders, zum Beispiel mit der Nase» mit Sujets wie dem übergrossen, müffelnden Hund und dem Mann mit Blindenstock im Lift stammt von SZBlind. «Damit der blinde Matthias Etter unabhängig seine Wege gehen kann, steht ihm der SZBlind mit Rat und Tat zur Seite», steht auf einem der Plakate.

Hofmann findet die Kampagne unmöglich. Weil auf dem Plakat nicht «der blinde Matthias Etter» zu sehen ist, sondern ein Model, das einen Blinden spielt. Der Verband bestreitet das nicht. Die Plakate zeigten «symbolhaft Männer und Frauen», die mit einer Sehbehinderung selbstbestimmt durchs Leben gingen, schreibt SZBlind der WOZ: «Unsere Arbeitskolleginnen und -kollegen, die selbst blind sind, begrüssen die Botschaft, welche die Plakate aussenden, und fühlen sich durch den Einsatz von Models auf den Plakaten nicht diskriminiert.»

Stefan Hofmann nerven die Plakate, weil es letztlich genau die Blindenverbände gewesen seien, die verhindert hätten, dass er als Selbstständiger habe überleben können. Gleich bei ihm um die Ecke gibt es eine Beratungsstelle des Blindenbunds, wo jedoch nur Sehende arbeiteten. Die hätten aber nie bei ihm eingekauft, sondern alle Hilfsmittel immer auswärts bestellt. Blinde oder Sehbehinderte hätten sie nur zu ihm geschickt, wenn diese Beratung gebraucht hätten oder ein Gerät kaputt gewesen sei.

Die Struktur des Hilfsmittelmarkts ist komplex. Am Beispiel des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands (SBV) lässt er sich aber gut illustrieren. Der SBV ist der älteste und grösste Blindenverband in der Schweiz. Vor etwa drei Jahren übernahm er die Mehrheit der Accesstech AG in Luzern. Die Firma wurde vor bald dreissig Jahren von einem Sehbehinderten gegründet und vertreibt ähnliche Hilfsmittel, wie sie auch Tools4theBlind anbot. Heute ist Accesstech eine der grössten Firmen in diesem Hilfsmittelsegment.

Nun schreibt die Invalidenversicherung (IV) in einem seit 2019 gültigen Tarifvertrag vor, dass Anbieter höchstens zwei Prozent auf den Einstandspreis draufschlagen dürfen, wenn elektronische Hilfsmittel über die IV abgerechnet werden. Hofmann sagt aus eigener Erfahrung, man könne mit einer so kleinen Marge als Einkäufer nicht überleben. Er kaufte zum Beispiel in Deutschland eine Computerbraillezeile für 4800 Franken ein. Dann musste er sie in seinem Geschäft für 6000 Franken verkaufen, um seine Fixkosten decken zu können. Er löste dieses Problem mit einer Genossenschaft, die ihre eigene Buchhaltung hatte, aber in denselben Räumlichkeiten domiziliert war. Die Genossenschaft – die eine eigentliche Scheinfirma war – kaufte ihm offiziell die Geräte ab und verkaufte sie mit der erlaubten Marge, damit korrekt mit der IV abgerechnet werden konnte.

Der Blindenverband verfügt laut Hofmann über ein vergleichbares Scheinsystem. Die Accesstech benutzt die Stiftung Accessability, die der Aktiengesellschaft die Hilfsmittel abkauft und dann mit der IV abrechnet. Auf die separaten Anfragen der WOZ an den SBV und an die Stiftung Accessability kam eine gemeinsame Antwort zurück. Darin steht, dass man 2015 beschlossen habe zusammenzuarbeiten. Der SBV hat inzwischen 65 Prozent der Aktien von Accesstech gekauft; wie viel er dafür bezahlte, wird nicht öffentlich gemacht. Aus der Stiftungsurkunde geht hervor, dass Accesstech den Stiftungsrat kontrolliert.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen sieht kein Problem in diesem Konstrukt, sofern «diese Firma die Hilfsmittel nicht zu einem überteuerten und ungerechtfertigten Preis an die einzelnen Leistungsträger weiterverkauft», wie die Medienstelle auf Anfrage schreibt. Über den Umsatz von Accesstech schweigt sich der SBV aus, die Jahresrechnung der Stiftung ist ebenfalls nicht öffentlich einsehbar, was seltsam anmutet bei einer gemeinnützigen Organisation, die von Spendengeldern und Bundesmitteln lebt.

Hofmann kritisiert vor allem die übermächtige Rolle von Accesstech/Accessability: «Seit der Blindenverband die Aktiengesellschaft gekauft hat, werden alle Zweigstellen des Blindenverbands angehalten, die Hilfsmittel via Accesstech respektive die Stiftung zu beziehen.» Der Blindenbund, die zweitgrösste Blindenorganisation im Land, ist in diesem Geflecht eingebunden und kauft ebenfalls bei Accesstech/Accessability ein. Womit der Blindenverband im Hilfsmittelmarkt eine monopolähnliche Stellung erobert habe, moniert Hofmann: «Als kleiner, unabhängiger Unternehmer hatte ich keine Chance, daneben zu überleben.» Zu dieser Kritik schreibt der SBV: «Zum Marktaustritt von einzelnen Anbietern können wir uns nicht äussern.» Die Zweigstellen des SBV könnten, aber müssten die Hilfsmittel nicht über die Stiftung Accessability beziehen, und die Beratungsstellen würden auch andere Anbieter im Markt empfehlen.

Für Stefan Hofmann ist indes klar: Die Verbände sollen beraten, aber nicht selber eine Firma unterhalten, die Hilfsmittel vertreibt und den ganzen Markt dominiert. Zwar werde immer von Inklusion geredet, er habe aber nie irgendwelche Unterstützung erfahren, obwohl er immer wieder den Kontakt mit den Verbänden gesucht habe: «Das hat die nicht interessiert. Ich hatte nie eine Chance, meine Vorstellungen und Ideen einzubringen.»

Weisser Stock versus Laserstock

Inzwischen ist Stefan Hofmann aus dem Blindenbund ausgetreten. Er fordert eine neue Organisation, die nicht «nach Behinderung» sortiert, sondern alle Menschen mit Beeinträchtigungen integriert und von Betroffenen geführt wird; Nichthandicapierte wären noch in assistierender Funktion dabei. Er würde heute auch niemandem mehr raten, an Blindenorganisationen zu spenden: «Ausser an die Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte. Die sind modern aufgestellt und machen enorm wichtige Arbeit.»

Zurück zum weissen Stock. Es gibt moderne Laserlangstöcke, die vibrieren, wenn Hindernisse auftauchen, die sich mit dem normalen Stock nicht ertasten lassen. Hofmann hat den Laserstock getestet und mag ihn nicht, weil er schlecht in der Hand liegt: «Der Griff ist zu schwer. Zudem vibriert der Stock zu oft; wenn es ein bisschen regnet, fallen Tropfen auf den Laser, und dann vibriert der Stock ständig.» Ein gutes Beispiel, wie Blinde Hilfsmittel anders einschätzen und anders beraten als Sehende. Hofmann würde den modernen Laserstock nicht empfehlen und ist selber weiterhin mit dem unkapriziösen weissen Stock unterwegs.

Geld vom Bund

Behindertenorganisationen erhalten finanzielle Unterstützung vom Bund. Es geht dabei um einen festgelegten Gesamtbetrag von über einer halben Milliarde Franken, der jeweils über vier Jahre hinweg ausgeschüttet wird.

Die Blindenorganisationen erhalten pro Jahr 20 Millionen Franken, das Geld wird über den Dachverband SZBlind verteilt. Nur Pro Infirmis – die Dachorganisation, die alle Menschen mit Beeinträchtigungen vertritt – erhält mehr. Pro Mente Sana, der Dachverband, der sich spezifisch um Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen kümmert, erhält jedoch nur 2,7 Millionen Franken.

Warum das so ist, lässt sich kaum ergründen. «Diese Verteilung ist auch historisch bedingt und kann deshalb nicht angepasst werden, weil die aktuellen Rechtsgrundlagen momentan keine entsprechende (andere) Verteilung vorsehen. Wie damals die genaue Zuteilung erfolgte, kann ich Ihnen nicht sagen», teilte der Verantwortliche beim Bundesamt für Sozialversicherungen der WOZ mit. Die Gelder sind enorm wichtig, aber es fragt sich, ob der Verteilschlüssel noch zeitgemäss ist.