Literatur: Die ungreifbare Heldin

Nr. 41 –

Da ist es schon wieder, dieses eigenwillige und vorwitzige Mädchen, neugierig gegenüber gesellschaftlichen Fragen und mit einer, wie sich noch zeigen sollte, abenteuerlichen Lebensgeschichte. Die Bürgerrechtlerin und Künstlerin Susanna Carolina Faesch (1844–1921) hat zuletzt gleich zwei Schweizer Schriftsteller zu biografischen Romanen inspiriert: Thomas Brunnschweiler (siehe WOZ Nr. 12/22) und nun den Bestsellerautor Alex Capus. Letzterer beginnt «Susanna» mit einer alten Kleinbasler Tradition. Da beobachtet die Titelfigur gemeinsam mit ihrer Mutter den «Wilde Maa», der jeden Winter mit Ledermaske und eine Tanne schwingend die Kinder der Stadt erschreckt. Als er plötzlich die fünfjährige Susanna packt und durch die Luft schwingt, bohrt ihm diese den Zeigefinger ins Auge.

Schon als Kind erregt sie also Aufsehen, und nachdem die kleine Susanna mit ihrer Mutter nach New York ausgewandert ist, lässt sie sich viel später, im Jahr 1890, auch nicht davon abhalten, in die Reservate der widerständigen Sioux um ihren Anführer Sitting Bull zu reisen. Dem Aufenthalt bei den Sioux widmet Capus nur die letzten paar Seiten seines Romans. Wer sich also für diesen Ausschnitt aus Faeschs Leben besonders interessiert, ist bei Brunnschweiler besser bedient: Sein Roman «Die Zwischengängerin» bietet umfang- und detailreiche Schilderungen des Aufenthalts bei Sitting Bull – inklusive Briefwechsel, Zeitungsausschnitten und Tagebucheinträgen.

Capus wiederum reisst die Leserin mit seiner elaborierten Sprache und seiner gekonnten Inszenierung ausgewählter Fragmente aus Faeschs Leben von Anfang an mit. Die einzelnen Szenen präsentiert er eingängig, aber auch ihm gelingt es in «Susanna» nicht, deren präzise recherchierte Lebensstationen so miteinander zu verknüpfen, dass ein roter Faden entsteht. Beide Autoren unterlassen es, sich den Motiven ihrer Protagonistin mit den Mitteln der Fiktion anzunähern – so bleibt diese in ihrer lebensgeschichtlichen Entwicklung letztlich in beiden Romanen ungreifbar.

Buchcover von «Susanna»

Alex Capus: «Susanna». Carl Hanser Verlag. München 2022. 285 Seiten. 36 Franken.