Roman: Köbi, der Schelm
Eine Mischung aus Krimi und Sozialstudie: In «Heimatlos» erzählt Stephan Pörtner die Geschichte von einem, der aus dem Zürcher Oberland floh, um in den USA sein Glück zu suchen.
Es war ein Ereignis, das den weiteren Lauf der Geschichte der USA entscheidend prägen sollte: die Schlacht bei Little Bighorn. Unter Sioux-Anführer Sitting Bull besiegten im Juni 1876 (je nach Quelle) rund 2000 Kämpfer der Lakota, Dakota, Arapaho und Cheyenne das 7. Kavallerieregiment von Oberstleutnant George Custer. Von den über 600 US-Soldaten überlebte kein einziger. Die Rache der Armee sollte fürchterlich ausfallen: Denn mit dieser Niederlage, die noch heute als ihr grösstes Trauma mystifiziert wird, begann die systematische Auslöschung der Indigenen in den USA.
Mit der Schlacht bei Little Bighorn endet der Roman «Heimatlos oder Das abenteuerliche Leben des Jakob Furrer von der Halde bei Wald» von Stephan Pörtner. Vor fünfzehn Jahren besuchte der Zürcher Autor die Gedenkstätte der Schlacht, wie dem Nachwort zu entnehmen ist. Als er im Register der Mitglieder des 7. Regiments las, habe er erstaunt festgestellt, dass da auch Schweizer mitgekämpft hatten. Unter anderem ein Vincent Charley, der nach der Schlacht aufgefunden wurde mit «einem Stock oder einem Teil der Fahnenstange» in der Kehle. Sonst war kaum etwas aus dem Leben dieses Charley zu erfahren, und Pörtner beschloss, diesem Mann eine Lebensgeschichte zu schreiben.
Rachsüchtiger Fabrikantensohn
In «Heimatlos» erzählt Pörtner nicht nur aus dem abenteuerlichen Leben Charleys, sondern zeigt auch anschaulich auf, wie Ende des 19. Jahrhunderts der Hunger die Furrers, Bählers oder Schwanders zwang, die Schweiz zu verlassen. Und welche Lebensbedingungen sie in der vermeintlich neuen Heimat vorfanden. Die chronologisch erzählte Geschichte von Charleys Leben beginnt mit seiner Geburt am 12. Oktober 1848: «Der Bub schrie, als wolle er nicht hinaus in diese Welt, in dieses Leben, in diese Zeit, die schwer war, in diese Familie, die arm war.» Da heisst der Bub noch Jakob Furrer. Geboren wird er in einen Bauernhaushalt im Zürcher Oberland, wo der erste Teil des Romans spielt.
Jakobs Leben ist geprägt von Verzicht und vor allem von einer unglücklichen Liebe: Anna und Jakob lieben sich, seit sie Kinder sind. Doch die Tochter eines reichen und gewalttätigen Grossbauern wird dem Fabrikantensohn Balthasar versprochen. Würde Jakob Anna heiraten, würde ihr Vater «alles daransetzen, dich zu ruinieren, wir wären heimatlos und müssten fortziehen, in einer Fabrik arbeiten», ist Anna überzeugt.
Heimatlos wird Jakob trotzdem: Anna wird von ihm schwanger, die Hochzeit platzt, Balthasar schwört Rache, und Jakob flieht nach Zürich. Hier hofft er vor seinem Rächer sicher zu sein. Doch Balthasars Arme reichen bis in die Stadt, ja sogar bis in die USA, wie Jakob Jahre später merken wird. Nach zwei aufregenden Jahren, in denen sich der sympathische Köbi nicht nur als redlicher Bauarbeiter durchschlägt, sondern auch einen kurzen Abstecher ins Leben als Krimineller macht, muss er fliehen.
Unter falschem Namen reist Jakob von Basel im Schiff nach Neuyork. Es folgt eine Odyssee durch ein Amerika, in dem das Leben der Einwander:innen mit ihrem Streben nach Landbesitz mit demjenigen der Indigenen zusammenprallt. Auch Jakobs Ziel ist Landkauf, damit Anna, mit der er in Briefkontakt steht, mit der gemeinsamen Tochter nachreisen kann. Der letzte Teil des Romans beginnt in dem Moment, als Jakob Landbesitzer im «Dakota-Territorium» wird. Ist er zu Beginn noch überzeugt, dass es in diesem Land Platz für alle hat, so dämmert ihm dank seiner indigenen Geliebten, «was für eine Katastrophe es für die Ureinwohner gewesen sein musste, als plötzlich massenhaft Fremde mit Gewehren und Verträgen in ihr Land einfielen».
Naiv, aber sympathisch
Stephan Pörtner ist Autor, Journalist, Übersetzer und Kolumnist und schrieb auch regelmässig für die WOZ. Seit Ende der neunziger Jahre hat er mehrere «Köbi-Romane» geschrieben, eine Mischung aus Krimis und Sozialstudien im linken Zürcher Milieu. Diese Elemente findet man auch in «Heimatlos», nur spielt Köbis Geschichte diesmal in einer weiter entfernten Vergangenheit. Ausserdem erinnert das Buch auch an einen Schelmenroman: Der etwas naiv wirkende, aber sympathische Protagonist landet immer wieder in vermeintlich ausweglosen Situationen, aus denen er von Menschen, die es gut mit ihm meinen, gerettet wird: von der «Edelprostituierten» Barbara, vom zwielichtigen Brupacher, vom fröhlichen Luftibus Ernst, von seiner indigenen Geliebten und schliesslich sogar vom Lakota-Krieger Canta Suta.
Diese Figuren sind zum Teil etwas schablonenhaft gezeichnet, und die vielen Dialoge wirken manchmal etwas gar erklärend. Doch die Nähe zum Protagonisten und die schnörkellose Sprache machen das Buch zu einer packenden Lektüre. Zu gerne begleitet man diesen Jakob Furrer durch sein abenteuerliches Leben und ist erstaunt, dass er erst 28 Jahre alt ist, als es endet.
Von Freitag, 12., bis Freitag, 26. Mai 2023, widmet sich Zürich im Rahmen von «Zürich liest ein Buch» in verschiedenen Veranstaltungen Pörtners Buch.
Stephan Pörtner: «Heimatlos oder Das abenteuerliche Leben des Jakob Furrer von der Halde bei Wald». Bilgerverlag. Zürich 2022. 335 Seiten. 34 Franken.