Eigenarchäologie: Guter Pop in Sheffield Sex City
Jarvis Cocker, Gründer der Band Pulp, hat auf seinem Dachboden gewühlt und ein Buch wie ein autobiografisches Wimmelbild geschrieben. Es erzählt von Klassen und Pop als Kinderkram.
Oasis oder Blur? Diese Frage hat Ende des 20. Jahrhunderts den an Britpop interessierten Teil der Menschheit für eine Viertelstunde beschäftigt. Die Antwort: Pulp. Warum das noch heute die richtige Antwort auf die falsche Frage ist, die Band noch heute interessant ist und die Unterscheidung zwischen gutem und bösem Pop politisch relevant ist – solche Fragen beantwortet Jarvis Cocker in seinem Buch «Good Pop, Bad Pop. Die Dinge meines Lebens».
Die Dinge seines Lebens findet der Gründer und Erfinder von Pulp in einer Kammer auf dem Dachboden seiner Londoner Wohnung: Strickkrawatten, Kaugummipapier (Wrigley’s Extra), einen Aufnäher vom Nachtclub Wigan Casino bei Manchester (Northern Soul!), ein gelb-weiss gepunktetes Acrylhemd, Notizhefte, Pornohefte, ein Kofferradio mit Skalenknopf (John Peel!), Einkaufstüten, Postkarten (Pauschalurlaub Ibiza), Modellraumschiffe (Jarvis wollte im Weltraum leben), kaputte Brillen (Jarvis ist sehr kurzsichtig).
Bloss nicht prätentiös
Die Fundsachen aus der Rumpelkammer lässt Cocker fotografieren und sortiert sie nach der Devise «Keep or cob». «Cob» heisst wegschmeissen im Slang seiner Heimat, der (Ex-)Stahlstadt Sheffield. Pulp-Fans kennen es auch als «Sheffield Sex City». Im gleichnamigen Song geht es um massenhafte Simultanorgasmen in Sozialbauhochhäusern, ein Relikt aus dem Fordismus, als der Rhythmus der Fabrik noch das Sexleben einer lebensweltlich homogenen Working Class durchgetaktet hat.
Groteske Anekdoten illustrieren den Spagat zwischen Arbeiterklasse und Kunst.
Zu jedem Dachbodenfund erzählt Cocker eine Geschichte. So entsteht ein autobiografisches Wimmelbild oder, mit Cocker, eine «Eigenarchäologie». Hat der frankophile Brite an Foucaults «Ordnung der Dinge» gedacht, Untertitel «Eine Archäologie der Humanwissenschaften»? Selbst wenn, er würde es für sich behalten, könnte ja prätentiös wirken. Schliesslich soll weiter gelten, was Bandbiograf Owen Hatherley 2012 in «These Glory Days» schrieb: «Pulp war die letzte grosse Band, deren Mitglieder sich ihrer Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse bewusst waren und sich gleichzeitig als Künstler verstanden.» In mitunter grotesken Anekdoten illustriert Cocker, wie kompliziert der Spagat zwischen Arbeiterklasse und Kunst in den achtziger und neunziger Jahren war, und lässt zugleich durchblicken, dass Jahrzehnte nach Thatcher und New Labour nicht mehr so ungebrochen von der Arbeiterklasse geredet werden kann wie zu Zeiten von «Sheffield Sex City».
Auch der Klassenkonflikt aus Pulps grösstem Hit spielt noch in einem übersichtlichen Setting: Sie möchte mit normalen Leuten schlafen, verkündet die blasierte Protagonistin aus der Upperclass in «Common People». Gewöhnliche Leute wie die Gallagher-Lads von Oasis, die bei Tony Blair in 10 Downing Street ein paar Lines ziehen, ein Kippmoment der britischen (nicht nur Pop-)Geschichte, von Pulp festgehalten in «Cocaine Socialism». Und vielleicht einer der Momente, in dem Good Pop in Bad Pop kippt. Guter Pop erzeugt schon beim ganz jungen Jarvis das gewisse Kribbeln, ohne dass er genau sagen kann, warum. Cocker gibt den enthusiastischen Poplover, den Beatlemaniac: «Natürlich bin ich nicht der Einzige aus meiner Generation, der als Kind von den Beatles besessen war – keine Beatles, kein Br*tp*p. Wie hätte ich auch nicht von ihnen besessen sein können? […] Um ein echter Fan zu sein, war ich noch zu jung – aber GESPÜRT habe ich sie trotzdem.»
Bei Cocker wird Pop wieder zu Kinderkram, im besten Sinn. Er erinnert sich, wie er 1969 mit fünf Jahren den einen Hit von Peter Sarstedt im Radio hört. Nicht annähernd habe er den Text von «Where Do You Go to My Lovely» verstanden, wer Marlene Dietrich und Zizi Jeanmaire waren, wie man am Napoléon-Brandy nippen musste, ohne sich die Lippen nass zu machen. Aber etwas ganz Wichtiges hat er bei dem Song begriffen: «Er erzeugte das Kribbeln.»
Vermutlich keimt in diesem Moment in Klein Jarvis der Wunsch, eine Band zu haben, Popstar zu werden. So erleben wir «The Making of Pulp». Cocker erfindet buchstäblich die Band, lange bevor er ein Instrument besitzt. In seinen Notizen entwirft er den Pulp-Look, er soll «Abscheu ausdrücken gegen die normale Welt». Trashiges Secondhandzeug, die Zweitverwertung nennt er «upcycling». Es folgt «The Pulp Masterplan»: mit konventionellen Songs Erfolge feiern, dann die Musikindustrie unterwandern. In seinem Kopf nimmt das Konzept der subversiven Affirmation Gestalt an, bevor er auch nur einen Akkord hinkriegt.
Und der Kokainbrexitismus?
Das Märchen vom Pop als Welterschliessungsmaschine funktioniert. Bis der Bad Pop sein hässliches Haupt erhebt, als Cocker in seiner Rumpelkammer eine blaue Handtasche aus Pappe entdeckt. Die Nachbildung der Tasche von Margaret Thatcher, «der Beginn des Zeitalters des Bad Pop». Politiker missbrauchen Pop für ihre Zwecke, aus populär wird populistisch. Mit seiner schlichten Weltordnung – guter gegen böser Pop – konserviert Cocker bewusst eine kindlich-naive Wunschfantasie, die das Buch am Laufen hält.
Mit dem Thatcher-Ende bleiben uns andere, womöglich perfidere Inkarnationen des Bad Pop erspart. Schade eigentlich, gern hätte man gewusst, was Cocker heute zum Kokainsozialismus von New Labour zu sagen hat (den er anfangs unterstützte). Oder zum Kokainbrexitismus der The Smiths hörenden Eton-Bubis von Cameron bis Johnson. Fortsetzung, please.
Jarvis Cocker: «Good Pop, Bad Pop. Die Dinge meines Lebens». Aus dem Englischen von Harriet Fricke und Ingo Herzke. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2022. 400 Seiten. 40 Franken.