Literatur: Geigenspieler, Bildungsbürger, Bestie

Nr. 43 –

Verstehen zu wollen, wie man sich zum heutigen Ich entwickelt hat, ist oft ein zentrales Motiv, wenn jemand seine Memoiren aufschreibt. «Wer bin ich damals?» ist die viel grundlegendere Ausgangsfrage für Edgar Selges Erinnerungsbuch «Hast du uns endlich gefunden».

Selge kennt man als Charakterschauspieler von Theaterbühnen und aus Fernsehfilmen. Mit 73 Jahren legt er nun ein erstaunliches Debüt als Autor vor. Das Buch berührt durch seine Intimität – aber auch mit einer behutsamen poetischen Sprache. Was für ein Talent hat da jahrzehntelang vor sich hin geschlummert.

Wie bei einer Schauspielübung schlüpft Selge hinein ins eigene kindliche und jugendliche Ich. Er beobachtet die 1960er Jahre der Bundesrepublik Deutschland auf Augenhöhe, als noch einmal heraufbeschworene Gegenwart. Prägende Figur seiner Kindheit ist der Vater: Gefängnisdirektor mit fortschrittlichen Ideen zum Strafvollzug, ambitionierter Geigenspieler, Bildungsbürger – und eine Bestie. Vater Selge verprügelt Edgar und seine Brüder regelmässig, bedrängt sie auch sexuell. Diese frühen Gewalterfahrungen inmitten des banalen Familienalltags beschreibt Selge ganz sachlich als unmittelbar körperlichen Horror. Erst die Schockwellen danach lassen seine Welt verschwimmen, das Schluchzen tief aus dem Zwerchfell sein einziger Verbündeter.

Je älter er wird, desto analytischer nähert er sich dem nie ganz eindeutigen väterlichen Monster, der passiven Mutter. Auch dank der Interpretationshilfen seiner älteren Brüder entwirrt sich ein zeittypisches Geflecht aus verdrängter NS-Schuld und verstocktem Mief der Nachkriegsjahre. Dagegen wappnet sich der jugendliche Selge mit Büchern und Filmen: nicht einfach als Realitätsflucht, sondern als Gegenwelten, die ihm «das Leben ersetzen». Er sieht sich auch nicht nur als Opfer, sondern rekonstruiert unerbittlich die eigenen Grausamkeiten.

Von seinen unterdessen verstorbenen Eltern kommt er dabei nicht los. Sie suchen ihn weiter heim, bis in die Träume von heute hinein.  

Buchcover von «Hast du uns endlich gefunden»

Edgar Selge: «Hast du uns endlich gefunden». Rowohlt Verlag. Hamburg 2021. 304 Seiten. 34 Franken.