Autobiografie: Schweigen macht krank

Nr. 23 –

Buchcover von «Gegen das Schweigen. Meine etwas andere Kindheit und Jugend»
Luise F. Pusch: «Gegen das Schweigen. Meine etwas andere Kindheit und Jugend». Aviva Verlag. Berlin 2022. 267 Seiten. 35 Franken.

Luise F. Pusch, Mitbegründerin der feministischen Sprachwissenschaft in Deutschland und Autorin des Langzeitbestsellers «Das Deutsche als Männersprache», hat in der Coronazeit eine Autobiografie ihrer ersten 21 Lebensjahre geschrieben. Zu ihrem 79. Geburtstag ist das Buch nun erschienen. Ins Auge sticht das Motto, das die Linguistin ihren Memoiren voranstellt. Sie widerspricht Ludwig Wittgensteins Merksatz «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen», indem sie entgegenhält: «Wovon man nicht sprechen kann, davon wird man krank.» Worüber Pusch, bis sie zwanzig war, mit niemandem sprechen konnte, war ihre Homosexualität.

In «Gegen das Schweigen» beschreibt sie ihre Kindheit und Jugend als Tochter einer alleinerziehenden Mutter in der Kleinstadt Gütersloh. Mit mehreren Geschwistern lebt Pusch in ärmlichen, aber nicht lieblosen Verhältnissen. Die Mutter ist durch Scheidung, eine Abtreibung und die Liebe zu einem jüngeren Mann selber marginalisiert in dieser deutschen Nachkriegsgesellschaft, wo viele ein Geheimnis mit sich herumtragen. Wie in Didier Eribons «Rückkehr nach Reims» überlagern sich Schamgefühle wegen Homosexualität und Klasse – wobei Pusch auch einen klaren Unterschied sieht: Eribon habe Zuflucht gefunden in einer schwulen Gegenwelt, wie sie für Lesben damals noch kaum existierte.

Die in sich gekehrte, bücher- und musikvernarrte Luise verliebt sich in Mitschülerinnen, Lehrerinnen, Schauspielerinnen, ohne diese Liebe je auszusprechen, geschweige denn erwidert zu bekommen; im besten Fall entstand eine Freundschaft. Mit der Pubertät fängt sie an, extrem zu schwitzen, ein weiteres Kontakthindernis. In der begüterten, bildungsbürgerlichen Familie ihres jahrelangen Schwarms Charlotte erklettert Pusch die Klassenleiter des «guten» Geschmacks. Zum Studieren zieht sie nach Hamburg, in der grossstädtischen Anonymität hofft sie, endlich freier leben zu können. Doch der prägende Eindruck, den die Autobiografie hinterlässt, ist Schmerz und Hader über jahrelang unterdrückte, ungelebte Gefühle.