Regierungskrise in Grossbritannien: Wozu überhaupt wählen?
Wie viel Demokratie braucht Grossbritannien? Sehr wenig, findet offensichtlich die regierende Tory-Partei. Rishi Sunak ist der zweite Regierungschef innerhalb von zwei Monaten, der nicht von der britischen Wahlbevölkerung, sondern allein von der Partei ins Amt gehoben wurde.
In der vergangenen Woche, als die Regierungszeit von Liz Truss inmitten chaotischer Szenen in Westminster abrupt zu Ende ging und das Gerangel um einen Nachfolger begann, sah sich die britische Öffentlichkeit in die Rolle der blossen Zuschauerin relegiert. Die Entscheidung darüber, wer das Land durch die tiefste soziale Krise seit Jahrzehnten steuern soll, musste sie ein paar Hundert Tories überlassen.
Niemand würde wetten, dass der Winter nicht mit weiteren Turbulenzen aufwartet.
Das ist besonders absurd, wenn man bedenkt, dass Truss’ und Sunaks Partei derzeit miserable Umfragewerte verzeichnet – letzte Woche fielen die Tories auf deutlich unter zwanzig Prozent. Das ist der schlechteste je gemessene Wert. Dass sich eine derart unbeliebte Partei jetzt verzweifelt an die Macht klammert, ist ein Affront gegen die Demokratie.
Der demokratische Weg aus dem Schlamassel wären Neuwahlen. Dies ist auch die Forderung, die jetzt alle Oppositionsparteien vorbringen. Im Moment mag das ohnmächtig wirken. Denn dass die Tory-Fraktion einer Auflösung des Parlaments zustimmen und so ihr eigenes Grab schaufeln könnte, ist unwahrscheinlich. Aber die vergangenen Monate haben gezeigt, dass die Politik in Grossbritannien unberechenbar geworden ist. Niemand würde darauf wetten wollen, dass dieser Winter nicht noch mit weiteren Turbulenzen aufwartet.
Die entscheidende Frage für die Linke lautet jedoch: Eine Neuwahl wozu? Klar: Fast alles wäre besser als der rechtskonservative Brexit-Kult, dem die Tories anhängen. Aber unter dem Vorsitz von Keir Starmer bietet Labour nur bedingt eine progressive Alternative. Indem er Wirtschaftsführer:innen, Medienbaronen und Finanzmärkten signalisiert, dass er kaum am ökonomischen und politischen Status quo rütteln würde, hat er Labour nach rechts geführt: Die Partei distanziert sich demonstrativ von den Gewerkschaften; sie tut alles, um die Parteilinke kaltzustellen; sie heisst härtere Strafen für Klimaprotestierende gut; und sie kann nicht garantieren, keine weiteren Sparmassnahmen umzusetzen. Man muss sich fragen, ob sich aus linker Sicht eine Regierung dieser Partei unter Starmer überhaupt lohnen würde.
Trotzdem wäre es falsch, Neuwahlen als nutzlos abzutun, denn immerhin kann die Linke die Labour-Partei beeinflussen. Sie kann Druck für eine progressive Politik aufbauen und Forderungen stellen. Parteiintern passiert das bereits seit Jahren – mit einem gewissen Erfolg: An der Jahrestagung im September stimmten die Delegierten für mehrere Vorschläge des linken Flügels und der Gewerkschaften. Die Konferenz hat sich etwa für einen Mindestlohn von fünfzehn Pfund ausgesprochen, für die Wiederverstaatlichung der Post und der Eisenbahn sowie für den National Care Service, einen staatlichen Pflegedienst.
Ebenso entscheidend ist die Mobilisierung der Basis. Hier hat sich in den vergangenen Monaten viel getan: Die sozialen Bewegungen und die Gewerkschaften haben Zehntausende auf die Strasse gebracht, in Streiks, Demos und direkten Protestaktionen, um höhere Löhne und höhere Steuern für Reiche zu fordern. Auch dies zeigt Wirkung und beeindruckt selbst die Tories. Die «Don’t Pay»-Kampagne etwa, die die Brit:innen dazu aufruft, ihre Stromrechnungen nicht mehr zu bezahlen (siehe WOZ Nr. 42/22), hat viel dazu beigetragen, dass die Regierung schliesslich die Energiekosten gedeckelt hat. Das bestätigte ein Leak: Kürzlich ist ein Brief eines Energieanbieters an die Regierung publik geworden, in dem das Unternehmen panisch vor den Konsequenzen des Zahlstreiks warnt.
Egal wann die Tory-Regierung abtritt, ob in den kommenden Monaten oder erst 2024: Die Linke muss diesen Druck aufrechterhalten. Dann können Neuwahlen auch tatsächlich einen progressiven Aufbruch ermöglichen.