Grossbritannien: Schluss mit höflich
Hohe Energiepreise, stagnierende Löhne, ein kollabierender Gesundheitsdienst: Viele Menschen können ihren Alltag kaum noch bewältigen – aber immer mehr leisten Widerstand. Unterwegs im Süden Londons.
Es ist auf einmal kalt geworden in London, aber Trini hat vorgesorgt. Er führt in sein kleines Wohnzimmer und weist auf den Kamin, in dem er bereits einen sauberen Scheiterhaufen aus kleinen Holzstücken aufgebaut hat. «Das wird hier richtig gemütlich im Winter», sagt er.
Trini ist 76 Jahre alt und wohnt in einem kleinen Haus im Südosten von London, im Stadtteil Greenwich. Er trägt eine ausgeleierte Faserpelzjacke und eine Wintermütze. Trini erzählt gern, und er lässt sich dabei ungern unterbrechen. Am liebsten erzählt er Geschichten aus früheren Jahrzehnten, als er noch viel unterwegs war: Trini ist ein Rocker, sein Hobby sind klassische Motorräder. An den Wänden hängen Schwarzweissbilder von ihm in voller Motorradmontur, und in seinem Hinterhof stehen mehrere klassische Räder, an denen er rumwerkelt. So bekam er auch seinen Spitznamen: Als er irgendwann in den sechziger Jahren einmal in der Werkstatt am Hämmern war, tönte aus dem Radio der Song «If I Had a Hammer» von Trini Lopez.
In den letzten Wochen arbeitete er jedoch an etwas anderem: Trini hat den Kamin in seinem Wohnzimmer, der bislang eigentlich nur zur Dekoration da war, umgebaut und in Betrieb genommen. Er hat die Mauer aufgerissen, die Öffnung vergrössert und aus Ziegelsteinen und Zement einen kleinen Vorbau errichtet. Als gelernter Klempner weiss Trini, wie man so etwas macht. Als Brennstoff benutzt er Altholz, das er in Schreinereien findet. Eigentlich ist das, was Trini macht, nicht erlaubt – in Greenwich sind rauchende Kamine verboten. Aber er hält sein selbstgebautes Cheminée für die beste Möglichkeit, bei den Energiekosten zu sparen.
«Das Gas kostet ein Vermögen!», sagt er. An kalten Tagen mache er rund sechs Stunden am Tag Feuer, damit er kein Gas zum Heizen benutzen muss. Trini wohnt in einer Gemeindewohnung und erhält staatliche Wohnbeihilfe, zudem bezieht er eine bescheidene Rente – die genauen Zahlen habe er nicht im Kopf. Aber er ist sich sicher, dass ihm der Kamin eine unersetzliche Hilfe sein wird, um über die Runden zu kommen. «So, wie die Energiepreise derzeit ansteigen, spare ich damit eine ganz schöne Summe», sagt er. Er zündet das Feuer an, schnell wärmt sich das Wohnzimmer auf. «Schau, schon 25 Grad», sagt er begeistert und weist auf sein Thermometer.
Truss macht alles noch schlimmer
Trini mag ein Extremfall sein, aber Grossbritannien ist derzeit voll von Extremfällen. Manchmal hat man das Gefühl, das Land stehe kurz vor dem Kollaps. Himmelhohe Strom- und Gasrechnungen, Inflation bei zehn Prozent, steigende Hypothekarzinsen, sinkende Reallöhne und Sozialleistungen, ein Gesundheitsdienst am Kollabieren – die Liste der Notstände ist lang. Und die Regierung? Macht alles nur noch schlimmer: Zunächst hat Premierministerin Liz Truss versucht, saftige Steuersenkungen für Reiche durchzusetzen – aber damit hat sie selbst die Finanzmärkte verschreckt. Die tiefe Krise, die sie damit auslöste, zwang ihren Schatzkanzler Kwasi Kwarteng letzte Woche zum Rücktritt. In Westminster spekuliert man, dass auch Truss bald am Ende sein könnte. Unterdessen hat der neue Finanzminister Jeremy Hunt schon einmal eine neue Runde der Sparpolitik angekündigt.
Die grössten Schwierigkeiten bereiten den Brit:innen die exorbitanten Energiepreise – fast achtzig Prozent der Haushalte heizen mit Gas. Im privatisierten Energiemarkt legt die staatliche Behörde Ofgem jeweils vierteljährlich fest, wie viel die privaten Anbieter einem durchschnittlichen Haushalt maximal für Strom und Gas verrechnen dürfen. Im Frühling ist dieser Deckel um 54 Prozent angehoben worden, am 1. Oktober noch einmal um 80 Prozent. Das hätten Millionen von Haushalten schlichtweg nicht bezahlen können.
Erst in letzter Minute intervenierte Truss auf den grossen öffentlichen Druck hin und begrenzte die jährliche Rechnung ab 1. Oktober auf 2500 Pfund pro durchschnittlichem Haushalt. Aber das ist immer noch ein dramatischer Anstieg: Im September 2021 lag der Energiedeckel noch bei 1138 Pfund. Die britischen Haushalte müssen also mehr als die doppelte Summe irgendwie aufbringen. Millionen schaffen das kaum.
Schon vor dem Anstieg der Energiekosten kauften ein Viertel aller Familien weniger Essen, um mehr Geld für Strom und Gas zur Verfügung zu haben, wie eine Erhebung vom September zeigt. Zehn Prozent sind zeitweise auf kaltes Essen ausgewichen, um den Gasherd nicht in Betrieb setzen zu müssen. Lehrer:innen berichten von Schulkindern, die so hungrig sind, dass sie Radiergummi essen. Die Geldnot führt auch dazu, dass die Menschen ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Die Stiftung Asthma and Lung UK zum Beispiel hat davor gewarnt, dass Leute mit chronischen Krankheiten wie Asthma bei Medikamenten sparen. Bereits hat die Zahl der Hospitalisierungen markant zugenommen. Aber eine Einlieferung ins Spital verspricht nicht immer Hilfe, denn auch im Gesundheitsdienst kriselt es.
Gassenküche fürs Spitalpersonal
Helen O’Connor sieht es jeden Tag. An einem sonnigen Samstagmorgen schlendert die Fünfzigjährige durch die Fussgängerzone von Croydon, dem südlichsten Bezirk Londons, und plaudert über dies und jenes – über die reizvolle Diversität ihres Stadtteils oder die schlecht gebauten neuen Hochhäuser. Sie unterbricht ihre Ausführungen, als sie auf der Hauptstrasse einen Menschenauflauf sieht. Ein Deliveroo-Velofahrer liegt blutend am Boden, er ist von einem Auto angefahren worden. O’Connor vergewissert sich, dass sich bereits eine Ärztin in Zivil um ihn kümmert und die Ambulanz auf dem Weg ist. Schnell geht sie zu einem Busfahrer und weist ihn an, seine Warnlichter einzuschalten, um die hupenden Autos zum Schweigen zu bringen. «Viel mehr können wir nicht tun, er muss jetzt einfach auf die Ambulanz warten», sagt sie dann. Und fügt entmutigt hinzu: «Na ja, dieser Tage fragt man sich, ob sich die Warterei lohnen wird. Das kann dauern.»
O’Connor kam 1990 aus Irland nach London, um sich hier zur Krankenpflegerin ausbilden zu lassen. Damals seien die Arbeitsbedingungen und die Löhne noch richtig gut gewesen, erzählt sie. Aber in den vergangenen drei Jahrzehnten hat sie miterlebt, wie der National Health Service (NHS) nach und nach zurechtgestutzt, auf Spardiät gesetzt und teilprivatisiert wurde. Die Stipendien für die Pflegeausbildung sind um rund zwei Drittel gekürzt worden, sodass sich angehende Pfleger:innen heute verschulden und ihr Studiendarlehen im Lauf ihres Berufslebens zurückzahlen müssen. «Dazu kommt, dass die Arbeitsbedingungen echt schwierig geworden sind», sagt O’Connor. «Jedes Jahr geben etwa ein Viertel der Studierenden auf.» Das ist mit ein Grund, warum in der englischen Pflege rund 40 000 Stellen nicht besetzt sind.
Für jene, die im Job bleiben, wird es immer schwieriger. Nicht nur müssen sie aufgrund des Personalmangels härter arbeiten; die Sparprogramme der vergangenen zwölf Jahre haben auch dafür gesorgt, dass ihre Reallöhne laufend geschrumpft sind. «Wir haben seit 2010 mehrere Nullrunden oder mickrige Lohnerhöhungen erlebt», sagt O’Connor. «Immer mehr erfahrene Angestellte haben den NHS verlassen – mit verheerenden Folgen für die Qualität der Krankenpflege. Denn jetzt müssen viele unerfahrene Pflegerinnen Aufgaben übernehmen, die über ihrem Kompetenzniveau liegen. Das ist richtig gefährlich.»
Was O’Connor in der Pflege erlebt hat, gilt auch für den Rest des NHS. Überall mangelt es an Mitarbeiter:innen und an Geld, die Krise sei so schlimm wie noch nie zuvor in der Geschichte des Gesundheitsdiensts, sagen Expert:innen. Im Juni fasste das Branchenmagazin «British Medical Journal» («BMJ») zusammen: Patient:innen müssen regelmässig länger auf Ambulanzen warten, als die Sicherheitsvorschriften erlauben; wenn sie in der Notaufnahme ankommen, warten sie zu lange, weil es in den Spitälern an Kapazität fehlt; und die Wartelisten für nicht notfallmässige Operationen sind die längsten seit der Gründung des NHS. Durch die Covid-Pandemie seien die Probleme verschärft worden, aber sie beständen seit vielen Jahren, schreibt das «BMJ».
In den vergangenen Monaten ist noch ein Problem hinzugekommen: Unzählige NHS-Angestellte sind infolge der steigenden Inflation selbst hilfsbedürftig geworden. «Zuvor hatten sie es gerade noch geschafft – jetzt geht es nicht mehr», sagt Helen O’Connor. «Letzte Woche nahm ich an einer Sitzung in einem Spital in Croydon teil. Überall sah ich Flugblätter für die Angestellten, in denen sie an Gassenküchen und Essensausgaben verwiesen werden oder an Orte, wo sie ihren Kindern für ein Pfund Mahlzeiten kaufen können.» In manchen Spitälern sind «Hygienebanken» eingerichtet worden: Hier können sich die Angestellten mit gespendeten Toilettensachen versorgen. «Das Krankenpersonal ist am Anschlag», sagt O’Connor, «und die Leute sind stinksauer.»
Grösste Streikwelle seit Jahrzehnten
Aber es ist keine ohnmächtige Wut, sondern eine, die sich in Tatendrang übersetzt. Helen O’Connor wirkt im Gespräch zurückhaltend, manchmal fast schüchtern. Aber der Eindruck täuscht: Sie ist eine beinharte Gewerkschafterin mit jahrelanger Erfahrung und hat den Arbeitgebern immer wieder erfolgreich die Stirn geboten. 2018 hängte O’Connor den Pflegeberuf an den Nagel, seither arbeitet sie Vollzeit als Gewerkschafterin und Organisatorin für die Gewerkschaft GMB. Dieser Tage hat sie ganz schön viel zu tun.
Im Frühsommer hat in Grossbritannien die grösste Streikwelle seit Jahrzehnten begonnen. In unzähligen Sektoren haben die Leute die Arbeit nieder- und an manchen Tagen das Land praktisch lahmgelegt. Das landesweite Bahnnetz ist seit Juni bereits an acht Tagen stillgestanden. Die Dockarbeiter:innen von Liverpool und Felixstowe – dem grössten Containerhafen des Landes – haben zum ersten Mal seit den neunziger Jahren gestreikt, jeweils zwei Wochen lang. Auch die über 100 000 Pöstler:innen der Royal Mail sind zum ersten Mal seit dreizehn Jahren in den Ausstand getreten. Dazu kommen Arbeitsniederlegungen von Müllarbeitern, Unilektorinnen, Strafverteidiger:innen, Reinigungspersonal und Callcenter-Angestellten. Alle fordern sie einen Lohn, der mit der ungezügelten Inflation Schritt hält.
Doch die Streikwelle ist erst angerollt: Bald könnten sich auch Hebammen, Zivilbeamte und Feuerwehrleute der wachsenden Bewegung anschliessen – und Hunderttausende Pfleger:innen: In mehreren Gewerkschaften, die NHS-Angestellte vertreten, laufen derzeit Abstimmungen über mögliche Arbeitsausstände, auch beim Royal College of Nursing, der grössten Gewerkschaft für Pflegeberufe, die in ihrer über hundertjährigen Geschichte überhaupt noch nie gestreikt hat. O’Connors GMB ist dieser Tage ebenfalls dabei, die Mitglieder in einer konsultativen Abstimmung zu fragen, ob sie den Lohndisput mit der Unternehmensführung eskalieren wollen. O’Connor ist sich sicher, dass das Votum ein überwältigendes «Ja» sein wird.
Schon oft hat die Arbeiter:innenbewegung in den vergangenen zwölf Tory-Jahren versucht, einen breiten Widerstand gegen Sparprogramme und Privatisierungen zu organisieren. Aber diesmal scheint etwas anders zu sein. Nicht nur zeigen die Gewerkschaften eine Ausdauer und Entschlossenheit, die man bislang oft vermisst hat; zunehmend versuchen sie auch, ihre Streiks zu koordinieren und eine gemeinsame Front auf die Beine zu stellen.
Helen O’Connor stand auf der Rednerbühne, als eine Reihe von Gewerkschaften und sozialen Kampagnen sowie eine Handvoll linker Labour-Abgeordneter am 18. August in London die «Enough Is Enough!»-Kampagne aus der Taufe hoben. Die Initiative hat das Ziel, einen kollektiven Widerstand gegen die Lebenshaltungskrise aufzubauen. Sie stellt fünf Forderungen: eine deutliche Lohnerhöhung, tiefere Energierechnungen, ein Ende der Ernährungsarmut, angemessene Behausung für alle und höhere Steuern für die Reichen.
«Die Kampagne mobilisiert und inspiriert die Leute», sagt O’Connor. «Enough Is Enough!» hat in den vergangenen Wochen Kundgebungen in einem Dutzend Städten abgehalten, von Bristol bis Glasgow. Alle konnten Massen mobilisieren. An Streikposten im ganzen Land ist das grüne Ausrufezeichen der Kampagne zu sehen, laut den Verantwortlichen hat sie bislang schon über 700 000 Unterstützer:innen angezogen. Sie ist bereits jetzt eine der erfolgreichsten ausserparlamentarischen Kampagnen der vergangenen Jahre.
Zudem haben die Gewerkschaften begonnen, die Grundlage für eine dauerhafte Stärkung der Arbeiter:innenbewegung zu legen: «Wir gehen in die Betriebe und fragen die Belegschaft, was ihre dringendsten Probleme sind», erklärt O’Connor. «Dann bauen wir darauf eine Kampagne auf. Wir starten eine Petition, sammeln Unterschriften, halten Meetings ab, dann gibt es vielleicht einen Protest. So baut man nach und nach das Selbstvertrauen der Angestellten auf. Und wenn sie bereit sind, beginnt man eine Streikabstimmung.»
Bislang hätten viele Gewerkschaften eher auf Gespräche auf oberster Ebene gesetzt – also zwischen Gewerkschafts- und Unternehmensführung. «Aber zunehmend liegt der Fokus auf dieser Basisarbeit, der Organisation der Angestellten und der Ausbildung einer neuen Generation von Aktivistinnen und Aktivisten», sagt O’Connor. «Das ist entscheidend: So baut man ein Haus aus Stein, das die Arbeitgeber nicht einfach umblasen können.»
Aufruf zum Zahlstreik
Einige Tage später in Forest Hill, einem Quartier im Londoner Stadtteil Lewisham. Es ist eine überschaubare Menge, die in der grossen Halle einer methodistischen Kirche sitzt, vielleicht vierzig Leute. Aber ihr Enthusiasmus ist greifbar. «Wir werden diese Abstimmung haushoch gewinnen!», sagt Kevin Courtney, Kovorsitzender der Lehrer:innengewerkschaft NEU, von der Bühne aus. Auch die Lehrkräfte haben die Nase voll von mieser Bezahlung, sie stimmen derzeit über einen möglichen Streik ab – es wäre der erste seit über sechs Jahren. Im ganzen Land hält die NEU Anlässe wie diesen ab, um die Mitglieder zu mobilisieren und für den Streik zu werben.
Mit etwas Verspätung kommt Kirstie Paton in den Saal und lässt sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. «Langer Tag», sagt sie. Paton – kurze rötliche Haare, energische Persönlichkeit – war 27 Jahre lang Lehrerin in Südlondon, sie unterrichtete Psychologie und Soziologie. Ihre letzte Anstellung in einer Schule hat sie kürzlich aufgegeben, sie lässt sich derzeit zur Kinderpädagogin ausbilden. Die Schulen seien im gegenseitigen Wettbewerb zunehmend zu Fabriken geworden, in denen es allein darum gehe, die Schüler:innen auf gute Noten zu trimmen – das habe ihr die Freude am Unterrichten verdorben. Zudem sei der tiefe Lohn ein grösseres Problem geworden, sie habe sich mehr und mehr verschuldet. Natürlich wird Paton als langjährige Gewerkschafterin für den Streik stimmen. Aber sie macht noch mehr.
Im April erhielt sie eine Benachrichtigung von ihrem Energieanbieter Ovo, dass sich ihre Strom- und Gasrechnung auf 200 Pfund pro Monat verdoppeln werde – laut ihrem Vertrag bucht der Anbieter die Summe jeweils direkt von ihrem Konto ab. «Sie haben es einfach geändert, ohne dass ich irgendetwas sagen konnte. Ich fühlte mich so machtlos», sagt Paton. Einige Monate später las sie in den sozialen Medien von der Kampagne «Don’t Pay», einer neuen Initiative, die auf Widerstand durch Verweigerung setzt: Die Leute sollen ganz einfach ihre Energierechnungen nicht mehr bezahlen. Ziel ist es, eine Million Menschen zu mobilisieren, um dann gemeinsam in den Zahlstreik zu treten. So soll die Regierung gezwungen werden, den Energiepreis auf einem erschwinglichen Niveau zu halten. «Ich sagte zu meinem Mann: ‹Da sollten wir mitmachen.›» Sie meldeten sich zur Kampagne an.
Kurze Zeit später kam die nächste Meldung von Ovo: Ab 1. Oktober werde Kirstie Patons monatliche Energierechnung noch einmal kräftig ansteigen, auf 363 Pfund. Hätte sie Mühe, das zu bezahlen? «Na, was denkst denn du!?», antwortet sie stirnrunzelnd. «Ich verdiene im Monat 1200 Pfund. Mein Mann arbeitet in der Gastronomie mit einem Nullstundenvertrag.» Das heisst: Sein Chef gibt ihm nach Lust und Laune Arbeit – sodass er keine Garantie hat, auf ein gewisses Minimum an Arbeitsstunden zu kommen.
Als Paton dann noch einen demütigen Brief des Ovo-Chefs erhielt (sein Vermögen wird auf 675 Millionen Pfund geschätzt), in dem er sich für die Preiserhöhung entschuldigt, wurde sie blass vor Wut. «Ich sagte mir: ‹Der bekommt jetzt keinen Penny mehr von meinem Geld.›» Am 1. Oktober werde sie ihre Zahlungen einstellen – so wie viele andere, die aufgrund ihrer finanziellen Not nicht warten können, bis die Million Unterstützer:innen erreicht sind. Dass sie ihren Zahlprotest im Kollektiv macht, ist für Paton entscheidend: «So erzielen wir Wirkung – als Gewerkschafterin weiss ich das. Wir versuchen, eine Bewegung aufzubauen, sodass die Leute das Selbstbewusstsein haben zu sagen: ‹Wir ordnen uns nicht einem sozialen System unter, das in diesem Winter Menschen umbringt.›»
Die Nachricht von der «Don’t Pay»-Kampagne hat sich seit dem Sommer im Nu im ganzen Land verbreitet. Mittlerweile gibt es überall lokale Gruppen, laut «Don’t Pay» sogar auf der abgelegenen schottischen Inselgruppe der Äusseren Hebriden. Rund 200 000 Leute haben sich bis Ende September für den Zahlstreik angemeldet, über 30 000 von ihnen helfen mit, für die Kampagne zu werben und sie weiterzuentwickeln, darunter auch Kirstie Paton. Denn «Don’t Pay» will nicht bloss eine anonyme Onlinebewegung bleiben: Es geht darum, lokale Netzwerke der gegenseitigen Unterstützung aufzubauen. Deshalb sei die Arbeit auf der Strasse so wichtig, sagt Paton.
Ihr «Don’t Pay»-Ableger in Lewisham betreibt wöchentlich Informationsstände in verschiedenen Quartieren. Es gibt zudem verschiedene Arbeitsgruppen, die sich regelmässig treffen. Etwa ein Rechercheteam, das sich mit finanziellen Aspekten rund um die Energiekrise beschäftigt. Zum Beispiel mit der Frage: Was passiert eigentlich genau, wenn man die Zahlung einstellt? Wieder ein anderes Team knüpft Kontakte mit anderen lokalen Gruppen, wie etwa mit Kirchen, Moscheen, Essensausgaben oder anderen Wohlfahrtseinrichtungen. Zudem versucht «Don’t Pay» in Lewisham, eine sogenannte «warm bank» aufzubauen: einen geheizten Raum, in dem Leute, die zu Hause frieren, Zuflucht finden. «Wir wollen nicht nur die Politik zum Handeln zwingen, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken», sagt Paton.
«Can’t pay, won’t pay!»
Am 1. Oktober, dem Tag, an dem Kirstie Paton ihren Zahlauftrag an ihren Energieanbieter einstellt, brennen im ganzen Land die Energierechnungen. In der Fussgänger:innenzone von Catford, einem Quartier in Lewisham, haben sich etwa drei Dutzend Leute um den Infostand von «Don’t Pay» versammelt. Sie rufen: «Can’t pay, won’t pay!» In einem kleinen Metallständer machen sie ein Feuer, dann schmeissen sie ausgedruckte Energierechnungen hinein. In dreissig anderen Orten im ganzen Land finden ähnliche Proteste von «Don’t Pay» statt.
Am gleichen Tag steht das landesweite Bahnnetz erneut still, die Gewerkschaft RMT streikt wieder. Zudem sind auch rund 11 500 Angestellte des Postdiensts Royal Mail im Streik, und Zehntausende Menschen ziehen unter dem Banner von «Enough Is Enough!» durch die Strassen von fünfzig Städten, um für höhere Löhne zu protestieren. Auch die Klimakampagne «Just Stop Oil» zeigt ihre Muskeln: Die Aktivist:innen besetzen vier Brücken in London. Es ist der bislang grösste Aktionstag in diesem Jahr des wachsenden Widerstands.
Kirstie Paton hat das Gefühl, dass sich etwas tut im Land. «Es gibt alle möglichen Stereotype über uns Engländer:innen: dass wir reserviert und höflich seien und so weiter. Aber wenn wir genervt sind, dann können wir ganz schön streitlustig werden. Ich spüre derzeit, dass sich der schlummernde Löwe langsam regt.»