Soziale Kämpfe: Von der Angst zum Aufstand

Nr. 36 –

Steigende Energiekosten, eine rekordhohe Inflation und wachsende Armut: Überall in Europa regt sich Widerstand dagegen. Aber können linke Kräfte dabei den Lead übernehmen? Und welche Rezepte haben sie?

Demonstration in Leipzig am 5. September 2022
Explosives Gemisch: In Leipzig folgten am Montag einige Tausend Personen dem Demoaufruf der Linkspartei. Nicht weit entfernt versammelten sich die Rechten. Foto: Jens Schlueter, Getty

«Heisser Herbst gegen soziale Kälte»: Unter diesem Motto riefen Vertreter:innen der Linkspartei die Menschen am Montag nach Leipzig. Die Demo sollte den Auftakt für breit angelegte, linke Sozialproteste bilden – und der angeschlagenen Partei zu neuer Kraft verhelfen. Doch ihre Forderungen, etwa nach einem Energiepreisdeckel und einer Übergewinnsteuer, waren im Vorfeld beinahe untergegangen. Viel mehr beschäftigte Politik und Medien die Frage, ob es möglich sei, die Montagsdemos, die in Ostdeutschland seit Jahren von Pegida und «Querdenkern» dominiert werden, wieder von links zu reklamieren. Oder ob es die extreme Rechte schaffe, die Angst der Menschen für ­ihren «Wutwinter» zu in­strumentalisieren.

Die bislang beschlossenen staatlichen Hilfspakete dürften kaum ausreichen.

Von der AfD über rechts­radikale Kleinstparteien bis zum «Querdenker»-Milieu und prominenten Exponenten der neuen Rechten: Sie alle hatten ihre Un­ter­stüt­zer:in­nen ebenfalls nach Leipzig mobilisiert. Medienberichten zufolge versammelten sich dort bei parallelen Kundgebungen mehrere Tausend Personen. Die «Freien Sachsen», die schon während der Pandemie jeweils montags gegen die Massnahmen der Behörden auf die Strasse gegangen waren, versuchten zwar offenbar – unter anderem angefeuert vom rechtsextremen Verleger Jürgen Elsässer –, mit den anwesenden Linken, die deutlich in der Überzahl waren, eine Querfront zu bilden, um «die Regierung gemeinsam zu schlagen». Verhindert haben das dann vor allem autonome und Antifa-Gruppen, etwa das Aktionsnetzwerk «Leipzig nimmt Platz», die sich den Rechtsradikalen entgegen­stellten.

«Bloss Akteure mit Eigeninteressen»

Auch wenn es nach dem Montag für eine Bilanz zu früh ist, lässt sich bereits sagen: Eine Querfront gegen die Energiepolitik der Bundesregierung ist in Leipzig nicht entstanden. Der ganz grosse Protest, wie ihn sich die Linkspartei erhofft hatte, ist bisher allerdings ebenfalls ausgeblieben.

Dabei haben die sozialen Verwerfungen inzwischen ein gewaltiges Ausmass erreicht. Rasant steigende Energiepreise und eine rekordhohe Inflation – die in der Eurozone im August bei 9,1 Prozent lag –, Ukrai­ne­krieg und die Folgen der Pandemie: Die multiplen, sich überlagernden Krisen treffen die Menschen mit voller Wucht. Und sie sorgen nicht nur in Deutschland für eine explosive politische Gemengelage.

So haben in Frankreich die Gelbwesten ihre Rückkehr auf die Strasse angekündigt und planen für die kommenden Wochen mehrere Grossdemonstrationen. Derweil brachte in Prag unter dem Motto «Tschechien First» letztes Wochenende eine Querfront aus Rechts­po­pu­list:in­nen und dem Kleinbürger­tum Zehntausende auf die Strasse. Und in Grossbritannien hat mit Liz Truss diese Woche eine selbsternannte Thatcher-Wiedergängerin das Regierungszepter übernommen, deren neoliberale Agenda primär die Senkung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen umfasst und die bereits prekäre Situation nur verstärken dürfte.

Millionen Menschen auf dem ganzen Kontinent wissen aktuell nicht, wie sie die Rechnungen begleichen sollen, ihr Geld reicht längst nicht mehr bis zum Monats­ende. Für viele ist die Energiekrise eine Krise zu viel. Dass die rechte Politik des «Ich zuerst» den Problemen keine Abhilfe schaffen wird, dürfte klar sein. Und auch staatliche Massnahmen wie das in Deutschland eben beschlossene «Entlastungspaket» dürften bei weitem nicht ausreichen, um die Not zu lindern. Die Frage ist allerdings, welche Rezepte linke Kräfte gegen die Krise vorzuweisen haben. Und ob sie genügend Leute auf die Strasse bringen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Anruf beim Magdeburger Soziologen David Begrich, der das ostdeutsche Protestgeschehen und die dortigen Rechtsextremen schon lange beobachtet. Wie blickt er auf eine Debatte, in der Medien und auch der Geheimdienst seit Wochen einen «heissen Herbst» herbeireden und sogar die Aussenministerin vor «Volksaufständen» warnt? «Ich wundere mich, weshalb Politik und Medien eine solche Panik verbreiten und damit etwas anfachen, das sie eigentlich vermeiden wollen», sagt Begrich. Erklären könne er sich das Verhalten bloss dadurch, dass man diesmal auf alles vorbereitet sein wolle, nachdem man die Coronaproteste zuerst verschlafen habe. Das demokratisch legitime Mittel des Protests deshalb bereits im Vorfeld zu dämonisieren, hält der 51-Jährige dabei für falsch.

Hinzu kommt: «Stand heute gibt es keine Bewegung, bloss Akteure mit jeweils ­eigenen Interessen: die Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände mit einer sozialpolitischen Agenda, die Linkspartei, die sich politisch wieder stabilisieren will, und die extreme Rechte», so der Protestforscher. In Leipzig sei zwar die Kernanhänger:innenschaft mobilisiert worden. Über den weiteren Verlauf sage das aber nichts aus.

Unabhängig von der aktuellen Situation macht Begrich ein «starkes Ost-West-Gefälle» aus: Während die westdeutsche Protestkultur eine lange Tradition und eigene Mobilisierungsmechanismen habe, sei der Protest im Osten «anti-institutionell» verfasst. Auch die sozioökonomischen Voraussetzungen seien andere, weil die Mehrheit der Bevölkerung für eine soziale Krise deutlich schlechter aufgestellt sei und höhere Kosten sie entsprechend härter treffen würden. Zudem sei der Bezug auf die Montagsdemos allgegenwärtig.

Parteien ringen um Deutungshoheit

Begrich verweist auf die letzten grossen Sozialproteste gegen die Hartz-IV-Reformen der rot-grünen Regierung im Jahr 2004, die in Magdeburg begannen und mehrere Hunderttausend Menschen im ganzen Land auf die Strasse trieben. Während der Widerstand damals mehr von Betroffenen als von Funktionären ausgegangen sei, versuchten heute primär Parteien, Proteste anzufachen und dann die Deutungshoheit darüber zu erlangen. «Aufgrund der grossen Parteien­skepsis im Osten bin ich unsicher, ob dieser Plan aufgeht», sagt Begrich. Ohnehin werde sich der Charakter der Proteste nicht an Orten wie Leipzig entscheiden, sondern in den kleinen und mittleren Städten.

Angst vor einer Querfront herrscht indes auch in Österreich, wo das Milieu der Co­ro­na­leug­ner:in­nen ebenfalls mit der extremen Rechten und der FPÖ als deren parlamentarischem Arm verquickt ist. Auch dort hat sich die Szene inzwischen auf das Thema Teue­rung eingeschossen, das sie mit bestehenden Verschwörungserzählungen verknüpft. Um die Deutungshoheit über die soziale Frage nicht zu verlieren, ruft der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) für kommende Woche in diversen Städten unter dem Motto «Preise runter» zu Demos «gegen die Kostenexplosion» auf.

«Wir haben schon im März Massnahmen zur Senkung der Inflation gefordert – denn je früher man die Stopptaste drückt, desto weniger steigt die Teuerungsrate», sagt ÖGB-Chefökonomin Helene Schuberth. Zu den Forderungen des ÖGB gehört unter anderem ein Energiepreisdeckel, finanziert durch eine Übergewinnsteuer, wie diverse europäische Länder sie bereits eingeführt haben, die temporäre Streichung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel und den öffentlichen Verkehr sowie die Aussetzung der Mietpreiserhöhungen und höhere Sozialleistungen.

Das «Entlastungspaket», das die konservativ-grüne Regierung Ende Juli präsentierte, findet Schuberth zwar wichtig. «Doch die Einmalzahlungen reichen bei weitem nicht aus, um die gestiegenen Kosten auszugleichen.» Sie verweist aber auch auf einige grundlegende Punkte: «Wir stellen den liberalisierten Energiemarkt grundsätzlich infrage, sonst sind wir immer wieder Gefangene eines absurden Systems, in dem Energiepreise von der Börse bestimmt werden. Dabei ist Energie ein Grundbedürfnis.» Von der Regierung fordert sie, entsprechende Änderungen auf EU-Ebene voranzutreiben. Die Ökonomin zieht eine Parallele zur Zeit vor der Finanzkrise: «Die Probleme waren bekannt, doch man hat sie verdrängt und alle Regulierungsvorschläge abgelehnt», so Schuberth. «Heute ist das genauso, man will den Markt offenbar in seiner Dysfunktionalität aufrechterhalten.»

Wie prekär die Situation in Europa ist, zeigen indes alarmierende Zahlen, die der Europäi­sche Gewerkschaftsbund (ETUC) am Dienstag publizierte: Mit den Preisen vom Juli gerechnet, werden Arbeiter:innen im Tieflohnbereich mehr als einen ganzen Monatslohn für ihre jährliche Energierechnung aufwenden müssen. In Ländern wie Griechenland, Tschechien oder Italien betreffe dies auch Personen mit einem Durchschnittslohn. «Während Energiekonzerne Rekordprofite verbuchen, müssen sich Millionen Menschen entscheiden, ob sie es sich leisten können, die Heizung anzustellen oder ihren Kindern eine warme Mahlzeit zu kochen», lässt sich ETUC-Generalsekretärin Esther Lynch in einer Mitteilung zitieren.

Energierechnungen bestreiken!

Besonders verheerende Folgen haben die sozialen Verwerfungen derweil in Grossbritannien. Gemäss der Denkfabrik Resolution Foun­da­tion sind vierzehn Millionen Brit:innen – rund zwanzig Prozent der Bevölkerung – akut von Armut bedroht. Und laut einer Berechnung der University of York könnten zwei Drittel aller Haushalte im Januar in die Energiearmut abstürzen. Der ehemalige Labour-Premier Gordon Brown warnte kürzlich vor der «schwersten sozialen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg».

Gegen die Not der Bevölkerung und die neoliberale Agenda der Tory-Regierung, die keine Antwort auf die Krise vorzuweisen hat, hat sich inzwischen immerhin lauter Widerstand formiert. Bereits in den vergangenen Monaten sorgte eine ganze Welle von Streiks und Arbeitskämpfen für Aufsehen, wie sie das Land seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte: bei der Eisenbahn und in Amazon-Lagerhäusern, unter Busfahrerinnen, Anwälten, Postangestellten und Hafenarbeitern. Angesichts einer Inflation von über zehn Prozent und Energierechnungen, die diesen Herbst um achtzig Prozent steigen sollen, sind viele nicht mehr bereit – oder in der Lage –, sich mit der schlechten Entlöhnung der letzten Jahre abzufinden.

Demonstrant:Innen in London am 5. September
Demonstrant:Innen in London am 5. September. Foto: Wiktor Szymanowicz, Getty

Die Schlagkraft der Streiks in einer grösseren Bewegung zu vereinen, versucht derweil die von Gewerkschaften und Basisgruppen getragene «Enough Is Enough»-Kampagne, die derzeit zu Demos aufruft. «Eine faire Entlöhnung, bezahlbare Rechnungen, genug zu essen und ein lebenswerter Ort zum Wohnen: Das ist kein Luxus, das sind eure Rechte», fasst der Gewerkschafter Dave Ward die Forderungen auf der Kampagnenwebsite zusammen. Inzwischen unterstützen über eine halbe Million Menschen «Enough Is Enough».

Für Aufsehen sorgt in Grossbritannien auch die Initiative «Don’t Pay», die zum Boykott von Energierechnungen aufruft. Unterstützen bis Oktober mehr als eine Million Menschen das Anliegen, soll der Zahlstreik folgen, und die Rechnungen landen im Müll – sofern die Regierung bis dahin nicht gehandelt hat. Derzeit haben etwas mehr als 170 000 Personen den Appell unterschrieben – das Ziel der Kampagne ist also noch relativ weit entfernt. Dass ähnliche Modelle in der Geschichte zum Erfolg geführt haben, zeigt ein Fall aus dem Jahr 1990: Damals zwang eine Bewegung Premierministerin Margaret Thatcher dazu, eine neu eingeführte Kopfsteuer wieder zurückzunehmen. Um diesen Erfolg zu wiederholen, beschränken sich die Aktivist:innen nicht bloss aufs Internet, sondern versuchen auch durch Tür-zu-Tür-­Kampagnen und Infostände in Städten zu mobilisieren.

Während also linke Parteien und Gewerkschaften in einigen Ländern bisher vor allem auf traditionelle Rezepte setzen, blicken viele Aktivist:innen gespannt auf die Streiks und Proteste in Grossbritannien – auch wenn noch nicht abzusehen ist, wie breit der daraus resultierende Widerstand wird. Doch auch in Ländern wie Deutschland gibt es zunehmend Initiativen, die die Deutungshoheit über den Protest nicht den institutionellen Kräften überlassen wollen. So hat sich im Umfeld des Magazins «Jacobin» bereits ein Ableger des «Enough Is Enough»-Bündnisses gegründet. «Es ist Zeit, wütend zu sein. Und aus der Wut etwas zu machen», heisst es auf der Website.

Die Inflation und ihre Folgen : Was tun die Schweizer Gewerkschaften?

Während die Inflation in den anderen europäischen Ländern auf immer neue Rekordwerte klettert, scheint die Schweiz einmal mehr eine Insel der Sorglosigkeit zu sein: Im August ist die allgemeine Teuerungsrate im Vergleich zum Vorjahr um 3,5 Prozent gestiegen – was zwar viel ist, aber noch nicht besorgniserregend. Doch auch hierzulande dürften Krankenkassenprämien und Energierechnungen bald schon viel höher ausfallen, und auch die Lebensmittelpreise steigen unablässig. Vor allem jenen mehr als 720 000 Menschen, die in der Schweiz laut Statistik als arm gelten, und den 1,3 Millionen «Armutsgefährdeten» stehen zweifellos schwere Zeiten bevor.

Um die Teuerung auszugleichen, greift der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) zu seinem klassischen Mittel: Er fordert Lohnerhöhungen, diesmal von vier bis fünf Prozent. Während sich die Wirtschaft bereits von der Coronakrise erholt habe, die Geschäfte der meisten Unternehmen gut liefen, sei die Entwicklung der Löhne in den letzten Jahren «ungenügend» gewesen, so die Argumentation.

«Wenn die Arbeitgeber die Löhne nicht erhöhen, wird es soziale und politische Unruhen geben», hatte SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard Anfang August gewarnt – und «Kampfmassnahmen» angekündigt, sollte den Forderungen nicht nachgekommen werden. Der Arbeitgeberverband seinerseits hat den gewerkschaftlichen Appell wenig überraschend als «unrealistisch» zurückgewiesen. Dass auch in der Schweiz ein «heisser Herbst» aus Demos und Streiks bevorsteht, ist allerdings bisher nicht zu erwarten.

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Kommentare

Kommentar von Oliver Bolliger

Fr., 09.09.2022 - 13:49

Mit Ernüchterung gelesen....
Die schweizerischen Gewerkschaften sind leider weit davon entfernt eine breite Kampagne für soziale Sicherheit und gegen die drohende Armut zu lancieren. Alles bleibt im wohl bekannten und abgesteckten Spielfeld: Abstimmungskampf gegen die AHV-Revision, Forderung nach Lohnerhöhung, Aktionen gegen den gewerkschaftlichen Mitgliederschwund - alles sicherlich berechtigt - aber so wird nichts bewegt. Und deswegen wird es wahrscheinlich nicht's mit einem "heissen" Herbst in der Schweiz - ausser es gelingt in den kommenden Monaten breitere Bündnisse zu schmieden, die neben parlamentarischen Anpassungen auch weiterführende Forderungen auf die Strasse bringt. Es ist an der Linken die soziale Frage wieder in den Fokus zu stellen und glücklicherweise ist die SVP dazu nicht in der Lage. Die kantonale Armutsverwaltung mittels Sozialhilfe ist endlich dringend mit einem nationalen Rahmengesetz abzulösen und die Unterstützungsbeträge sind entsprechend zu erhöhen.

Kommentar von wozajikhareva

Sa., 10.09.2022 - 12:51

Lieber Herr Bolliger,
Vielen Dank für Ihre in meinen Augen sehr treffende Analyse der Situation in der Schweiz. Ein Bündnis, das radikalere Forderungen auf die Strasse bringen würde, ist aus meiner Sicht gerade leider nicht auszumachen. Aber ich denke auch, dass es die einzige Chance auf eine wirkliche Veränderung wäre.