Die USA vor den Zwischenwahlen: Am Anfang ist das Ohr

Nr. 44 –

In Ohio kommt es zum Duell zwischen dem rechtsradikalen Republikaner J. D. Vance und dem ­ Demokraten Tim Ryan. Wie wollen die Demokrat:innen den von Deindustrialisierung und Opioidepidemie gebeutelten Staat zurückerobern? Linke Gruppen sehen das Zuhören als ersten Schritt.

Organizerin Drea Reany von Nelsonville Voices zieht von Tür zu Tür, um mit den Menschen über die wichtigsten Probleme zu reden
Unterwegs in Nelsonville, Ohio: Organizerin Drea Reany (links) zieht von Tür zu Tür, um mit den Menschen über die wichtigsten Probleme zu reden – weil das heute «an sich schon ein radikaler Akt» sei.

«Das grösste Problem sind die Drogen», sagt Jenny M.*, ihr Blick ist kühl. «Abhängige» sehe man an jeder zweiten Ecke, gebrauchte Spritzen, «viel Gewalt». Die 49-Jährige steht in ihrem Vorgarten, die linke Hand in die Hüfte gestemmt. Auf ihrem T-Shirt ist die US-amerikanische Flagge in Herzform abgebildet, umrandet von drei Worten: «Faith – Family – Freedom», die auf eine Weltanschauung schliessen lassen. Aber darum geht es jetzt nicht.

«Wegsperren», ruft ihr Nachbar dazwischen. Er hilft ihr heute bei Gartenarbeiten. Jenny M. nickt.

Eine Viertelstunde später, der besagte Nachbar knattert inzwischen mit dem Rasenmäher ums Haus, geht es nochmals um das Drogenproblem in Nelsonville, als sich M. langsam öffnet. Sie selbst habe ein Familienmitglied, das abhängig gewesen sei, erzählt sie. Was dieser Person geholfen habe? «Na ja, bessere Behandlung.» Ihre Sätze haben die anfängliche Härte verloren. Sie schaut auch nicht mehr so streng, vielmehr nachdenklich. «Die Polizei hilft nicht», hält Jenny M. fest. Sie lebt seit 21 Jahren in dem Dorf.

«Das war eine interessante Wende», sagt Drea Reany lächelnd, während wir von Jenny M.s Haus an der Madison Street den Hügel hinuntergehen. Aus der Forderung nach repressiver Isolation für drogensüchtige Menschen wurde der Wunsch nach medizinischer Unterstützung. Sie erlebe es oft, dass Gespräche nur durch ein paar Nachfragen ihre Richtung veränderten, sagt Reany. Vermeintliche Lösungen verlieren ihre Legitimation. Gemeinsame Verletzbarkeit deutet sich an: «Wir alle haben doch Widersprüche in uns. Für mich als Organizerin geht es darum, die Dinge herauszuziehen, mit denen wir arbeiten können.»

Scham und Stolz in Nelsonville

Die 32-jährige Reany ist Gründerin von Nelsonville Voices, einer linken Organisation im Südosten des Bundesstaats Ohio. Oberflächlich betrachtet hat sie in den vergangenen Wochen das gemacht, was Zehntausende Menschen in den USA gemacht haben: Sie ist von Tür zu Tür gezogen, um über Politik und die anstehenden Midterms zu sprechen – die Wahlen, die zwischen zwei Präsidentschaftswahlen stattfinden. Der Begriff «Wahlkampf» wäre allerdings irreführend. Reany geht es primär weder um die Wahlen noch um einzelne Kandidat:innen. Dafür hat sie Nelsonville Voices nicht ins Leben gerufen. Wofür aber dann?

«Unsere Gesellschaft ist so stark von Schweigsamkeit und Verlassenheit geprägt», sagt Reany, da sei das direkte Gespräch über die wichtigsten Probleme «an sich schon ein radikaler Akt». Das Erste, was sie mit Nelsonville Voices deshalb im Sommer 2021 initiierte, war eine «Listening Tour». Zuhören, sagt sie, sei wesentlich mehr als nur eine Geste, auch kein Selbstzweck; nein, Zuhören sei der Schlüssel zur politischen Veränderung. Um zu verstehen, was Reany damit meint, muss man sie bei der Arbeit begleiten. Sie macht nämlich genau das, was die Demokratische Partei seit Ewigkeiten auslässt.

Organizerin Drea Reany von Nelsonville Voices
Organizerin Drea Reany von Nelsonville Voices.

Als Donald Trump 2016 die Präsidentschaftswahl gewann, sah es eine kurze Weile aus, als würde Menschen in Orten wie Nelsonville tatsächlich Gehör geschenkt. Diese Redewendung – «Gehör schenken» – ist allerdings schon ein Hinweis darauf, was in vielen Fällen passierte: Reporter:innen machten sich auf den Weg ins Innere des Landes, um in ein paar Tagen, manchmal auch Wochen, herauszufinden, wie Trumps Kombination aus Nationalismus, Vulgarität und Pseudopopulismus so viel Zustimmung erhalten konnte. «Fallschirmjournalismus» nennt sich das und war in manchen Fällen augenöffnend, reproduzierte allerdings häufig Klischees und zog stereotype Grenzen. Ganze Bundesstaaten wie Ohio standen plötzlich für «Trump Country», gigantischen Landschaften samt ihrer zig Millionen Bewohner:innen wurde ein Stempel verpasst – an erster Stelle dem Rust Belt (Rostgürtel) im Nordosten und den Appalachen im Osten.

Auf kein anderes Buch wurde in dieser Erzählung des «weissen Ghettos» so unermüdlich Bezug genommen wie auf «Hillbilly-Elegie», eine Biografie, die, wie der Untertitel verrät, eine «Gesellschaft in der Krise» porträtieren will. Der Autor, J. D. Vance, erzählt darin von seiner Kindheit zwischen Ohio und Kentucky, die stark davon geprägt war, dass sich seine Grossmutter um ihn kümmern musste, weil seine Mutter drogensüchtig war. Es geht in diesem Buch um die Folgen der Deindustrialisierung, um Scham und Stolz der «hill people», um Armut und häusliche Gewalt. Verortet werden all diese Probleme jedoch vor allem innerhalb «der Familie, des Glaubens und der Kultur», wie Vance schreibt. Die Unterschicht ist arm dran, vermittelt der Autor, aber irgendwie auch selber schuld. Und wer es wirklich nach oben schaffen will, schaffe es durch Fleiss und Disziplin. Vance hat es mit seiner Karriere als Finanzinvestor ja selbst vorgemacht.

«Hillbilly-Elegie» erschien im Sommer 2016, zum perfekten Zeitpunkt also, als Trump sich gerade die Nominierung gesichert hatte. Das Buch war auch deshalb so erfolgreich, weil es die liberale Idee von Eigenverantwortung bestärkte und zugleich den Rechten Futter für die Sorge um ein «weisses Amerika im Niedergang» gab. Ähnlich wie viele Trump-Heartland-Reportagen aus dieser Zeit schildert es Elend im Detail, spart eine materielle Analyse aber aus. Nichtweisse Menschen werden nur am Rand erwähnt. Leute, die sich gegen Trump organisieren, existieren nicht. Irreführend ist Vances Story aber vor allem deshalb, weil sie zum Massstab der Trump-Ergründung gemacht wurde, während beispielsweise wohlhabende Vororte, in denen der rechte Politiker ebenso grossen Zulauf hatte, ignoriert blieben. Manchmal ist Nichtbeachtung auch ein Zeichen von Herrschaft.

Warum der 38-jährige Vance sechs Jahre später immer noch eine Rolle spielt? Weil er in dieser Zeit eine Transformation hingelegt hat, die mindestens so viel erzählt wie sein Buch. Aus einem Trump-Erklärer und -Gegner, der im Sommer 2016 noch vor «Amerikas Hitler» warnte und den damaligen Kandidaten als «Opioid für die Masse» bezeichnete, ist ein Trump-Verbündeter geworden. Mit radikalem Programm will Vance für seinen Heimatstaat Ohio in den US-Senat ziehen. Laut Umfragen hat er gute Chancen, zu gewinnen – gegen Tim Ryan, einen moderaten bis konservativen Demokraten, der die «Mittelschicht retten» möchte, wie er sagt.

Weniger Jobs, mehr starke Schmerzmittel

Wer den Wahlkampf in Ohio, aber auch in anderen Bundesstaaten beobachtet oder, noch genereller, wer das politisch-gesellschaftliche Geschehen in diesem Land verfolgt, erlebt etwas Paradoxes: Einerseits scheinen sich fast alle Probleme zu verschärfen, andererseits scheint sich fast alles zu wiederholen. Die Reden der Republikaner:innen bleiben stumpf, die Antworten der Demokrat:innen oft hilflos. Hier eine Schiesserei, dort eine neue Cancel-Culture-Debatte. Zuspitzung und Repetition. Die Demokratie zerfällt, und viele Leute haben immer noch keine Krankenversicherung.

Man kann es naiv finden, dass genau in dieser Zeit in Ohio – einem Bundesstaat, der als hoffnungslos für progressive Politik erklärt wurde, quasi der Ground Zero des Trump-Verständnis-Komplexes – eine linke Organisation den Wandel über das Zuhören aufbauen will. Oder man hält es für das Einzige, was langfristige Wirkung verspricht.

Strasse im Ortskern von Nelsonville
Malerischer Ortskern, neoliberales Elend: In Nelsonville leben 4500 Menschen, ein Drittel von ihnen unterhalb der Armutsgrenze.
Parkplatz im Ortskern von Nelsonville, im Hintergrund ein Kreuz auf einer Kirchturmspitze

Der historische Ortskern von Nelsonville erinnert an eine Filmkulisse. Imposante Backsteingebäude neben kleinen Shops, ein restauriertes Opernhaus, auf das sie stolz sind, in der Mitte ein Brunnen und gepflegter Rasen. Nur Menschen trifft man hier kaum. Je weiter man sich vom Platz entfernt, desto heruntergekommener sind die Häuser. In verwaisten Gärten streunen Katzen. Ein anderer Film. Rund 4500 Bewohner:innen hat die Gemeinde, von denen über ein Drittel unter der Armutsgrenze leben. Früher wurde in Nelsonville Kohle abgebaut und wurden Ziegelsteine produziert, in den dreissiger Jahren siedelte sich die Schuhfirma Rocky Boots an. Blühende Wirtschaft, bis – na ja, «same old story» – die Industriejobs weniger wurden und eine neoliberale Politik das Steuer übernahm.

Als Mitte der neunziger Jahre Purdue Pharma das Mittel Oxycontin auf den Markt brachte, nahm die Opioidepidemie ihren Lauf, eindrucksvoll geschildert in der Serie «Dopesick», die auf dem gleichnamigen Buch der Journalistin Beth Macy basiert. In Ohio wurden immer mehr Gefängnisse gebaut, die Zahl der prekären Health-Care-Jobs stieg. Die ehemalige Fabrik von Rocky Boots dient heute als Outletstore, wo Klamotten, Waffen und Pulled-Pork-Sandwiches verkauft werden.

Der Frust über die ökonomischen Verhältnisse ist im Lauf der Jahrzehnte gewachsen, doch Nelsonville, wo 95 Prozent der Bevölkerung weiss sind, wählte noch lange Demokrat:innen. 2008 und 2012 gewann Barack Obama noch deutlich. Als 2016 mit Hillary Clinton eine Demokratin auf die Bühne trat, die mehr oder weniger die Fortsetzung des Status quo versprach und mit ihrem Programm und ihrem Habitus für viele auch noch die Verkörperung der liberalen Elite darstellte, wechselte die politische Stimmung. Trump gewann Nelsonville mit dreizehn Stimmen Vorsprung. Vier Jahre später waren es siebzehn Stimmen.

Die Organizerin Drea Reany hat diese Zahlen im Kopf, wenn sie in ihrer Community unterwegs ist. Sie kennt Ohio, hat nie woanders gelebt. Die Entwicklungen waren für sie deshalb auch weniger überraschend. Ein Donnerstagnachmittag Ende Oktober. An der ersten Tür macht eine Frau im Kapuzenpullover auf, die verschlafen wirkt. Whitney P.* heisst sie, ist 34 Jahre alt, gelernte Coiffeuse und arbeitslos. «Drogen», antwortet sie auf die Frage nach den dringendsten Problemen in Nelsonville, wie alle anderen auch an diesem Tag. «Abhängige sind oft nicht mehr sie selbst», so Whitney P. weiter, «aber dadurch sind es ja nicht gleich Bad Guys.» Es klingt nach eigener Erfahrung.

Reany versucht, solchen persönlichen Erlebnissen strukturellen Kontext zu geben, ohne belehrend zu wirken. Sie spricht vorsichtig die Geschichte des «war on drugs» an. «Du meinst Nancy Reagan, die Schmutzkampagne und das alles?», fragt Whitney P. Drea Reany nickt energisch. «Genau, genau.» Stunden später wird sie diesen Moment nochmals in Erinnerung rufen. Man dürfe niemals unterschätzen, welches Wissen die Leute hätten, im Kleinen wie im Grossen. Die Konversation mit Whitney P. endet damit, dass sich die Frau vornimmt, zum nächsten Community-Meeting von Nelsonville Voices zu kommen. Es ist ein Anfang.

Schräg gegenüber von P. wohnt Marya F.*, die im Schneidersitz rauchend auf ihrer Veranda sitzt. «Kann ich helfen?»

Wieder tastet sich Reany langsam heran, will erfahren, was ihr Gegenüber beschäftigt, wo sie Lösungsansätze sieht. Erst letzte Woche habe ihr Nachbar seine Pistole auf sie gerichtet, erzählt F., die als Pflegehelferin arbeitet. «Ich würde eine Unterkunft für Obdachlose bauen und Drogenberatungsstellen einrichten.» Als Reany erklärt, dass das kleine Team von Nelsonville Voices eine Petition gestartet habe, die vom Stadtrat die Installation von Behältern für gebrauchte Spritzen fordere, wiegelt Marya F. ab. «Das wird hier nie funktionieren.» Sie zögert, unterschreibt dann aber doch.

Ein Wahlkampf, der tiefer geht

Um die Midterms geht es in den Gesprächen auch, allerdings nachgeordnet. Reany weiss, dass sich Leute nicht für die Versprechen eines Politikers interessieren, dessen Namen sie höchstens vage kennen. Das Rennen zwischen J. D. Vance und Tim Ryan erwähnt sie zwar und erklärt die Unterschiede, wenn gefragt. «Mein Ziel ist aber ein anderes. Ich will, dass normale Menschen Macht aufbauen, damit sie ihr Leben verbessern können.» Danach könne man auch über Wahlpolitik sprechen.

Reany ist mit solchen Überlegungen nicht allein. Organizing, das nicht primär auf parlamentarische Anerkennung zielt, hat für viele aktivistische Gruppen in den USA eine zentrale Bedeutung. «Deep canvassing» ist zum neuen Schlagwort geworden, womit ein «tiefgehender Wahlkampf» gemeint ist. Während viele Linke entsprechende Ansätze verfolgen, tun es die allerwenigsten jedoch in einem Dorf in Ohio, das für Trump gestimmt hat. Es sind gerade diese Bedingungen, die die Arbeit von Nelsonville Voices so besonders machen.

Drea Reany mit Amanda Decker von der linken Organisation Nelsonville Voices vor einer Haustüre
«Ich will, dass normale Menschen Macht aufbauen, damit sie ihr Leben verbessern können»: Drea Reany mit Amanda Decker von der linken Organisation Nelsonville Voices.

Die Filmemacherin und Organizerin Astra Taylor verfasste Anfang 2020, noch vor Pandemiebeginn, einen Essay für den «New Yorker», in dem sie das Zuhören als «tief politischen Akt» beschrieb, dessen Mangel mit der Krise der US-amerikanischen Demokratie verknüpft sei. «Als linke Aktivistin bin ich lange davon ausgegangen, dass meine Rolle ausschliesslich darin besteht, Bewusstsein zu schärfen, Alarm zu schlagen und Argumente vorzubringen», führte Taylor aus. «Es hat Jahre gedauert, bis ich erkannt habe, dass ich mithelfen muss, Räume zu schaffen und zu verteidigen, in denen auch zugehört werden kann.»

Ein «Right to Listen», Recht auf Zuhören, wie der Titel des Essays lautet, fordert Taylor ein, weil es ihr nicht nur um diejenigen geht, die in diesem System zu selten gehört werden, sondern weil sie auch das Interesse der Zuhörenden betont. Zuhören sei ein «Recht, das uns oft verwehrt wird», schreibt Taylor, aber «uns allen zusteht». Versteht man den Akt des Zuhörens in dieser Wechselwirkung, wird deutlich, was der Unterschied zu philanthropischen, unternehmerischen oder wahlkampfstrategischen Kontexten ist, in denen ja ebenfalls zugehört wird. Es geht nicht darum, Redeanteile zu balancieren oder kurzzeitige Mitbestimmung zu gönnen, sondern um ein gemeinsames politisches Projekt. Die anderen ernst nehmen und sich selber auch. Echte Solidarität statt nur Mitgefühl. Eine «Demokratie der gleichen Hörbarkeit», wie die Essayistin Rebecca Solnit es nennt, könnte man als dann erreicht sehen, wenn Schweigen nur noch freiwillig ist.

Die beschriebenen Mängel findet man mehr oder weniger in jeder westlichen Demokratie. In den USA, wo neun Richter:innen über die Mehrheit hinweg urteilen und Wahlrechte in der Hälfte aller Bundesstaaten abgebaut werden, ist die Lage allerdings eklatanter. Zum Ausdruck kommt das systematische Nichtgehörtwerden schon dadurch, dass grosse Teile der Bevölkerung gar keinen Sinn darin sehen, an Wahlen teilzunehmen. Zur Präsidentschaftswahl 2020 blieben rund achtzig Millionen Wahlberechtigte zu Hause, bei den Midterms sind es meist noch mal deutlich mehr. Gründe dafür gibt es zwar viele, ein gemeinsamer Nenner steht jedoch fest: Die Routinen, in denen sich die Politik gegenwärtig präsentiert, greifen für eine gigantische Masse nicht.

Wie es aussieht, wenn man alle Menschen als politische Subjekte ernst nimmt, kann man nicht nur in Nelsonville beobachten, sondern auch im Süden von Ohio, in der Kleinstadt Portsmouth, wo die Gruppe River Valley Organizing aktiv ist. Sie hat dort, in einer verlassenen Ecke nahe der Bahngleise, ein kleines weisses Häuschen zur Anlaufstelle für all jene gemacht, die sich im Alltag vor der Polizei verstecken müssen.

Portsmouth ist ein hartes Pflaster. Die Kleinstadt wurde einst als «pill mill of America» bezeichnet. Gemeint war die enorme Zahl von Arztpraxen und Kliniken, in denen Opioide ohne medizinische Betreuung und nur gegen Bargeld verschrieben wurden. Einige der Mediziner:innen sitzen zwar mittlerweile im Gefängnis, und die meisten «Pillenmühlen» sind dicht. Die Sucht ist jedoch geblieben. «Wir wissen, dass die Leute, die den Problemen am nächsten sind, auch Teil der Lösung sein müssen», sagt Organizer Michael Walenciej, während er durch die engen Räume führt. Im Flur hängen Poster, die zeigen, dass sich die Organisation für Black Lives Matter und gegen das Gefängnissystem einsetzt. Eine andere Wand ist voller Namen von Menschen, die in Portsmouth durch Drogen gestorben sind. Damit ein paar Stellen weiss bleiben, bieten Walenciej und seine Kolleg:innen einen Ort des Schutzes, jedenfalls soweit das möglich ist.

Leute tauschen ihre dreckigen Spritzen aus, testen sich auf Krankheiten, werden mit Naloxon versorgt, dem Gegenmittel für Überdosen. Und gleichzeitig geht es darum, sie politisch zu organisieren. Regelmässig finden Meetings mit Betroffenen statt. Wer will, kann sich für die Wahlen registrieren. Aktuell führt die Organisation eine Umfrage zur US-Gesundheitsbürokratie durch. Nicht, um die Leute zu kontrollieren, wie Walenciej sagt, sondern «um mit den Ergebnissen zum Kongress zu gehen».

Der Ansatz ist ähnlich wie in Nelsonville: zuhören, um Macht aufzubauen. River Valley Organizing und Nelsonville Voices haben aber noch eine andere Gemeinsamkeit: Beide Gruppen verstehen ihre Arbeit als explizit antirassistisch. Dass das im nichturbanen Ohio eine andere Bedeutung hat als beispielsweise in New York, liegt auf der Hand. Die demografische Zusammensetzung ist homogener, konservative Kräfte sind stärker. Für Organizerin Drea Reany ist es deshalb umso wichtiger, eine antirassistische Sprache zu finden, die auch Gemeinsamkeiten betont. «Man organisiert Menschen nicht über Schuld oder Scham», sagt sie, «aber wir können eben nicht nur von Klasse reden.»

Und dann kommt ein Satz, der so pragmatisch wie zwingend erscheint: «Wir müssen ‹race› zum Thema machen», so Reany, «weil es die Rechte auch tut.»

Vance und sein Elitenhass ohne Kapitalismuskritik

Wie Rassismus im Wahlkampf funktioniert, zeigt sich an einem Samstagmorgen in der Kleinstadt Chillicothe, zentrales Ohio. Knapp hundert Leute haben sich in einem schmucklosen Saal versammelt, um J. D. Vance zu sehen. Ein paar sind mit seinem Buch gekommen, um eine Unterschrift zu ergattern, andere tragen Trump-Caps. Und Vance selbst? Der trägt jetzt, keine ganz unwichtige Beobachtung, einen Bart.

Als Vance 2016 sein Buch präsentierte, damals noch glatt rasiert und mit Babyspeck im Gesicht, kam er wie ein Junge rüber, der viel vor dem Computer sitzt. Heute sieht er aus wie ein Mann, der am Wochenende jagen geht. Diese äusserliche Wandlung ist bemerkenswert, weil sich Vance in seinem Wahlkampf als ganz normaler Typ inszeniert, der weiss, was ganz normale Typen wollen. Ein Lautsprecher der Ungehörten quasi, auch wenn das mit der Realität nicht mehr viel zu tun hat.

Vance spult sein Programm ab: Er will Jobs nach Ohio zurückbringen, die von den Democrats nach China verlagert worden seien. Er will die Städte wieder sicher machen, «Kriminelle wegsperren». Er will den Fluss von Drogen nach Ohio unterbrechen, indem er den Bau der Mauer zu Mexiko unterstützt. Sein Konkurrent Tim Ryan? Ein Betrüger und Verräter. Die Medien? Abgehoben und falsch.

Mindestens so interessant ist aber, worüber Vance nicht spricht. Es geht weder um Gewerkschaften noch um den Mindestlohn oder Medicare for All. Auch ein Unternehmen wie Purdue Pharma, mitverantwortlich für die Suchtkrise in seinem Bundesstaat, spielt in seinen Tiraden keine Rolle. Dass Vance, wie viele sogenannte Nationalkonservative in den USA, nun auch über den Neoliberalismus schimpft, scheint in erster Linie rhetorische Strategie. Elitenhass ohne Kapitalismuskritik läuft immer noch auf Verschwörung hinaus. Fast alles erinnert an Trump. Nur Vances Biografie ist eben speziell, das nutzt er aus. Er erzählt von seiner Mutter, die seit sieben Jahren clean sei, von seiner Grossmutter, die neunzehn Pistolen besass und dauernd fluchte, von seinem Eintritt in die katholische Kirche. «Wer sich an die Regeln hält und hart arbeitet, muss ein gutes Leben führen können», sagt er. Kräftiger Applaus.

Wer glaubt, dass bei einer solchen Veranstaltung die verlassene Working Class von Ohio zusammenkommt, irrt jedoch. Es sind Businessentwickler, Bauleiterinnen, Projektmanager und Polizistinnen, die die aktive Basis bilden. Mittelstand. Viele über fünfzig, alle weiss. In gewisser Weise logisch, dass diese Leute es auch nicht als Widerspruch wahrnehmen, dass Vances Working-Class-Inszenierung kaum von seinen Inhalten gedeckt wird. Als Bestsellerautor, Ted-Talker, Start-upper und von Peter Thiel finanzierter Politiker schwebt Vance längst in anderen Sphären. Doch auch das scheint wenig zu stören. Im Gegenteil: Für seine Unterstützer:innen ist Vance der lebende Beweis, dass es den American Dream noch gibt. Selbst sein Wandel im Umgang mit Donald Trump wird als Stärke betrachtet. «Wir brauchen jemanden, der die Polarisierung stoppt» sagt der 24-jährige Alex Pollock, einer der wenigen jungen Menschen im Saal. «Vance hat gezeigt, dass er sich verändern kann.» Rechte Karriere durchgespielt, könnte man das nennen.

Deutlich wird an diesem Tag in Chillicothe, aber auch bei anderen Veranstaltungen von Vance, dass es eine Menge Wähler:innen gibt, die ihr Leben lang bei der Republikanischen Partei bleiben. Viele wählen rechts aus Überzeugung, andere eher aus Familientradition, wieder andere aus Frust oder Faulheit, meistens ist es eine Kombination verschiedener Faktoren.

Wer ideologisch verhärtet ist, wird sich wohl kaum von empathischen Organizer:innen an der Türschwelle überzeugen lassen. Gruppen wie Nelsonville Voices und River Valley Organizing haben aber sowieso ein anderes Verständnis. Ihnen geht es darum, konkrete Lebensverbesserungen auf lokaler Basis zu erreichen, jenseits der Parteizugehörigkeit. Und es geht ihnen darum, Menschen in die Prozesse zu holen, die vorher nicht beteiligt waren.

Ganz nüchtern könnte man fragen: Wie sonst, ausser durch Zuhören, will man das erreichen?

*  Nachname der Redaktion bekannt.

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