Ein Traum der Welt: Lesen für den Wald

Nr. 44 –

Annette Hug denkt beim Holzen an Bücher

Ist Papier wirklich das Problem? Die Frage stellt sich in einem Wald, der diesen Sommer von einem Sturm zur Hälfte abgemäht wurde. Dank der Hilfe eines begnadeten jungen Forstwarts ist er jetzt wieder begehbar. Aus den Ästen, die ich selber zersägen konnte, sind schon einige Scheiterbeigen geworden, die mächtigen Stämme liegen noch kreuz und quer. Eine Holzfirma hat angeboten, alles mit grossen Maschinen zu räumen – gratis! Das Holz wäre ihnen Lohn genug. Wären weniger Bäume gefallen, würde sich die Arbeit im Wald überhaupt nicht lohnen. So rottet viel Totholz vor sich hin, was gut ist für die Biodiversität, es sei denn, Schädlinge nehmen überhand.

Zwischen zwei Asthaufen zweifle ich an einer Argumentationslinie, die sich in der angerollten Diskussion über Literatur und Klima herausschält, zum Beispiel an einem Symposium des Schweizer Autor:innenverbands A*dS oder an der Buchmesse in Frankfurt. Das Buch selbst, das Ding, wird zum Problem. Und tatsächlich zeigen eine Reihe von Labels und Initiativen, die Daniel Graf im Onlinemagazin «Republik» vorstellt, dass Bücher sehr viel ökologischer hergestellt werden könnten: ohne Plastikhüllen, ohne Gift im Papier, alles vollständig abbaubar. Was mir noch fehlt: eine genaue Berechnung, die E-Books mit konventionellen Büchern vergleicht. In welchem Verhältnis steht der Strom- zum Papierverbrauch? Und da steigt die Komplexität sofort: Wird fürs Lesen auf dem Handy erneuerbare oder nicht erneuerbare Energie verwendet? Wie sind die Geräte gebaut? Wie werden sie entsorgt oder wiederverwertet?

Und weil das Holzen im Wald eigentlich eine sehr schöne Arbeit ist – besonders das Spalten der Blöcke, die mir der begnadete Forstwart zurechtgesägt hat –, möchte ich hier dafür plädieren, das Buch nicht nur als Problem, sondern auch als Teil der Lösung zu sehen.

In der Diskussion wird ausgeblendet, was mit diesen Büchern in vielen Fällen passiert: Sie werden gelesen. Das heisst: Ein Mensch macht nichts anderes, als irgendwo zu sitzen und stundenlang in Gedanken abzuwandern. Er oder sie schafft sich, angeregt von einem Text, eine eigene Welt. Dazu braucht es keine technische Unterstützung, keine Kopfhörer, keine Soundkulisse, kein Metaverse und gar nichts, das menschliche Hirn reicht aus – wenn es denn ein bisschen Übung hat, das heisst, wir brauchen Zeit zum Lesen.

Im Vergleich zu Freizeitbeschäftigungen wie Heliskiing ist das ausgesprochen ressourcenschonend. Was mich an ein Gespräch mit Nicolas Couchepin erinnert, Schriftsteller und Präsident des A*dS. Vor einigen Jahren stellten wir uns vor, dass sich Literatur in einer Wirtschaft, die vor allem immateriellen Reichtum hervorbringt, wunderbar entfalten könnte. Neben den Büchern von Schriftsteller:innen würde auch die literarische Volkskunst eine neue Blüte erleben. Umgedichtete Songs an Geburtstagen, Schnitzelbänke, Protestbriefe, Festreden, private Nachrichten aller Art würden zu Genres, die man von früh auf übt, in denen man sich in Zirkeln und an Festivals schult, um im richtigen Moment den genialen kleinen Text zu präsentieren.

Und damit ist noch gar nicht gesagt, was gute Bücher an Denkmöglichkeiten eröffnen, an Vorstellungskraft. Davon brauchen wir sehr viel, wenn wir diese Klimakatastrophe überleben wollen.

Annette Hug ist Autorin mit einem gewissen Eigeninteresse am Produkt Buch. Dem Thema «Literatur und Klima» ist auch die Ausstellung «Climate Fiction» im Museum Strauhof in Zürich gewidmet, sie ist bis am 8. Januar 2023 zu sehen.