Dystopien: Willkommen in der Zukunft
Fortschritt, aber nicht zum Guten: Das Denken in Dystopien ist inflationär geworden – weil unsere Zeit selbst dystopisch geworden ist?
Wo ist nur die Zukunft geblieben, und wer hat sie abgeschafft? Die Frage geistert seit geraumer Zeit umher, als praktische Formel, um auf eine gewisse Lähmung der politischen Vorstellungskraft hinzuweisen. Das soll nicht heissen, dass das sprichwörtlich gewordene Ende der Geschichte, wie es Francis Fukuyama einst in seinem gleichnamigen Buch von 1992 verkündet hatte, tatsächlich eingetreten wäre. Aber auch wenn Fukuyamas These seither längst selber auf der Müllhalde der Geschichte entsorgt wurde: Die damit verbundene Vorstellung vom endgültigen Triumph des liberalen Kapitalismus hat sich, so bemerkte der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher vor rund zehn Jahren, gleichwohl als breiter Konsens in unserem kulturellen Unbewussten abgelagert. Mit anderen Worten: Die Geschichte geht sehr wohl weiter, wie wir wissen – nur haben wir seither den Begriff einer alternativen Zukunft verloren.
So wäre, was Fukuyama vorschnell verkündete, irgendwie dennoch wahr geworden – aber als Ende der Zukunft, nicht der Geschichte.
Oder ist beides, das Ende der Geschichte wie auch der Zukunft, auch bloss theoretisches Spielzeug älterer Herren, die damit vielleicht nicht zuletzt sich selbst meinen? Angesichts einer Klimajugend, die es ablehnt, einfach etwas gewissenhafter weiterzuwursteln entlang von irgendwelchen Grenzwerten, sondern lautstark auf einer Alternative im starken Sinn beharrt, leuchtet die lähmende These vom Ende der Zukunft jedenfalls nicht mehr unmittelbar ein.
Aus der Zukunft gesteuert
Wenn schon, ist es heute eher so, dass wir zu viel Zukunft haben, erklärte der Philosoph Armen Avanessian unlängst im Gespräch mit dem «Tages-Anzeiger». Ein solches Ausmass an Wissen über das, was uns unmittelbar bevorsteht, habe es jedenfalls noch nie gegeben, so Avanessian: «Durch die Digitalisierung haben wir jede Menge Daten über das, was kommt, was auch bedeutet, dass wir in einem neuen Mass aus der Zukunft gesteuert sind.» Was aber, wenn dieses datengestützte prognostische Wissen, das wir aus algorithmischen Berechnungen und Simulationen ziehen, unsere Vorstellungskraft behindert, wenn es um Modelle für eine andere Zukunft geht?
Oder um es mit einer etwas spöttischen Frage von David Graeber zu sagen: Was, so fragt er in seinem Buch «Bürokratie. Die Utopie der Regeln» (2016), ist eigentlich aus so verheissungsvollen Fortschrittsfantasien wie den fliegenden Autos geworden? Graebers These, die er ans Gesetz der schwindenden Profitrate koppelt: Im Neoliberalismus habe man sich eben leider zusehends darauf verlegt, in Technologien zu investieren, die soziale Kontrolle und Disziplinierung der Arbeit förderten, statt in solche, die alternative Möglichkeiten für die Zukunft versprochen hätten. Die Hightechvisionen eines Elon Musk versprechen da auch keine echten Alternativen, weil er die alte Devise von Expansion und grenzenlosem Wachstum ja einfach ins All verlängert.
Etwas weniger spekulativ sagt es der Künstler und Computertheoretiker James Bridle in seinem Buch «New Dark Age: Der Sieg der Technologie und das Ende der Zukunft» (2020). Klar sind wir durch die Computerisierung in einem neuen Mass aus der Zukunft gesteuert – das Problem ist aber eben, dass diese Zukunft nicht massgeblich von den Parametern der Vergangenheit abweichen wird, auf deren Datenbasis sie errechnet wird. Bridle schreibt dazu: «Was schwer zu quantifizieren und schwierig zu modellieren ist, was bislang noch nicht da war oder sich nicht in etablierte Muster einfügen lässt, was ungewiss oder widersprüchlich ist, wird aus dem Feld möglicher Zukunftsentwürfe ausgeschlossen.» Die Zukunft bleibt so nur als vermeintlich optimiertes Update des Bestehenden denkbar. Anders gesagt: Je exakter wir dank datengestützter Prognosen über die nähere Zukunft Bescheid wissen, umso mehr schrumpft der Raum für Fantasien, die darüber hinausgehen könnten.
Aus der Mode gekommen
Der imaginäre Horizont der Zukunft erscheint also enger als auch schon. Davon zeugt auch die auffällige Konjunktur eines Begriffs aus der Literatur, der bis vor zwanzig Jahren zumindest im deutschsprachigen Raum noch praktisch keine Verbreitung fand. Gemeint ist die «Dystopie», also eine ins Negative, Abschreckende gewendete Utopie. Nimmt man den Zeitungskorpus zum Massstab, mit dem das «Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache» die Häufigkeit von Wörtern statistisch erfasst, so zeigt sich bei den Verlaufskurven ein klares Bild: Der Begriff der Utopie erreicht seinen Zenit rund um den Mauerfall von 1989, der ja in mancher Hinsicht – und je nachdem, aus welcher politischen Warte man darauf blickte – ein vorläufiges Ende der Utopien markierte. Ab 1992 ist in der deutschsprachigen Presse dann immer seltener von Utopien die Rede, der Begriff kommt aus der Mode. Bei der Dystopie dagegen, die damals noch gar nicht geläufig war, zeigt sich eine gegenläufige Tendenz: Bis vor zwanzig Jahren war der Begriff noch praktisch inexistent, seit rund zehn Jahren aber steigt die Kurve steil an.
Das heisst keineswegs, dass dystopisches Denken ein neues Phänomen wäre. Schliesslich sind schon die zwei fraglos wirkungsmächtigsten Zukunftsromane aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der dystopischen Literatur zuzurechnen: «Brave New World» von Aldous Huxley und «1984» von George Orwell, die grossen Parabeln über den konsumistischen und den politischen Totalitarismus. Was die Verlaufskurven besagter Begriffe jedoch zeigen: Das Denken in Dystopien mag nicht neu sein, aber es ist – im Gegensatz eben zum Utopischen – inflationär geworden.
In Filmen und Serien war das schon länger zu beobachten, wobei prominente Beispiele wie «The Hunger Games» und «The Handmaid’s Tale» ihrerseits auf dystopische Romane zurückgehen. Seit einigen Jahren kann man die Konjunktur des Dystopischen auch verstärkt in den Programmen hiesiger Literaturverlage ablesen, und seit Sibylle Bergs «GRM. Brainfuck» gilt es bei Literaturjurys endlich auch als preiswürdig.
Allein in diesem Herbst könnte man wieder Seiten füllen mit den neuen Romanen, die mit mehr oder weniger dystopischen Szenarien aufwarten: vom postmodernen Faschismus in einem Berlin der nahen Zukunft bei Laura Lichtblau («Schwarzpulver») über die schroffe Abstraktion einer totalitären Betonwelt bei Karoline Georges («Totalbeton») bis hin zu dem schillernden Personal, das Roman Ehrlich in der Hauptstadt der Malediven versammelt, die wegen des ansteigenden Meeresspiegels buchstäblich dem Untergang geweiht ist («Malé»).
Gerade in Ehrlichs Roman lässt sich das Dystopische dabei nicht sauber vom Utopischen trennen, weil er vor dem Hintergrund eines drohenden Untergangs vor allem auch das Potenzial alternativer Lebensmodelle ausleuchtet. Abgesehen davon reiht sich «Malé» auf einem literarischen Feld ein, das viel zu weitläufig ist, als dass man von einem klar umrissenen Genre sprechen könnte: die sogenannte Climate Fiction. Darunter fasst man neuerdings eine Literatur, die mehr oder weniger explizit den drohenden Klimakollaps erzählerisch zu bewältigen sucht.
Streng genommen sind allerdings auch die Klimamodelle, mit denen die Wissenschaft immer genauere Prognosen über die Zukunft formuliert, nichts anderes als Klimafiktion. Dagegen wirkt die literarische Climate Fiction nicht so sehr als prophetische Instanz, die uns wissenschaftlich vorrechnet, wie es kommen wird, sondern eher als warnendes Echolot, das probeweise Meldung erstattet, was es für uns heissen könnte, wenn wir so weitermachen wie bisher.
Was kommt, ist schon da
Dystopie heisst jedoch nicht Endzeit. Wer in Dystopien denkt, stellt sich nicht die «Zukunft als Katastrophe» vor, um es mit dem gleichnamigen Buch von Eva Horn zu sagen. Dystopien sind gerade keine Fantasien von Apokalypse und Erlösung, sondern beruhen auf einem negativen Fortschrittsdenken. In eine ähnliche Richtung zielt die US-Autorin Elvia Wilk, wenn sie in einem Interview zu ihrem Roman «Oval» sagt, dass es ihr gar nicht so sehr um die prophetische Kraft der Literatur gehe. Die nahe Zukunft nämlich, die sie in dem Buch entwerfe, sei eigentlich gar keine: «Alles darin ist bloss ein Schritt zur Seite in Bezug auf das, was heute passiert, nicht ein Schritt nach vorn.» Heute brauchen wir, um in Dystopien zu denken, die Zukunft gar nicht mehr.
Oder zugespitzt: Dystopien sind inflationär geworden, weil unsere Zeit selbst dystopisch geworden ist – und zwar lange bevor eine Pandemie grosse Teile der Welt lahmlegte. Ein ganzer Kontinent als Insel des Wohlstands, vor deren Küsten Zehntausende Zuflucht suchende Menschen ertrinken; brennende Flüchtlingslager an den Aussengrenzen Europas; oder auch der Himmel über Kalifornien, der wegen brennender Wälder in genau demselben rötlichen Farbton glüht, der vor drei Jahren die dystopische Zukunftsvision im Film «Blade Runner 2049» grundierte. Das sind nur drei besonders bildhafte Szenen, die zeigen: Das Dystopische ist nicht einfach in der Fiktion allgegenwärtig geworden; es ist unsere reale Gegenwart, die sich in diesen Fiktionen spiegelt.
Nochmals zurück zur Konjunktur der Begriffe. Nach dem Mauerfall war lange Zeit immer seltener von Utopien die Rede; die Verwendung des Begriffs ging kontinuierlich zurück. Absolut gesehen, ist die Utopie aber immer noch sehr viel geläufiger als ihr negatives Gegenbild – was sicher auch daran liegt, dass das Bedeutungsfeld der Utopie viel breiter ist, weil man damit auch ein Fantasiegebilde oder auch einfach eine Illusion bezeichnet. Inzwischen zeichnet sich sogar eine Trendwende ab: Seit 2013 zeigt auch die Verlaufskurve der Utopie wieder nach oben – parallel zur Dystopie.
Das ist vielleicht nicht gleich ein Versprechen für die Zukunft. Aber damit wir Illusionen verlieren können, müssen wir uns wohl erst wieder welche machen.