Filme aus der Ukraine: Bloss ein Scherz bei der Arbeit

Nr. 44 –

Eine aktuelle Schau ukrainischer Videokunst in der Winterthurer Coalmine ist nur vereinzelt eine direkte Kriegsschau. Aber manche Arbeiten erzählen, ohne es zu wissen, bereits von der kommenden Katastrophe.

Still aus dem Video «The Wanderer»: Inszeniertes Bild von toten russischen Soldaten im Schnee
Inszenierte Bilder von toten russischen Soldaten auf ukrai­ni­schem Boden: Das Video «The Wanderer» (2022) des Künstlerduos Yarema & Himey. Still: Courtesy by the Artists

Etwas stimmt nicht mit diesen Bildern. Trügerische Ruhe in abgeschiedener Landschaft. Irgendwo zwitschert leise ein Vogel, von fern so etwas wie eine Motorsäge, sonst alles still hier. Aber dort im lichten Wald, da liegt ein Mann zwischen den Bäumen. Was tut er da, rücklings auf dem Waldboden, die Hände erhoben, als flehe er den Himmel an?

«The Wanderer» heisst die Videoarbeit von Roman Himey und Yarema Malashchuk, aber auch mit diesem Titel stimmt etwas nicht. Wanderer? In diesen Idyllen wandert niemand mehr, die Männer liegen da wie tot, verloren in der Landschaft, manche auch mit grotesk verrenkten Gliedmassen.

Der Katalogtext in der Coalmine in Winterthur hilft weiter: Was das Künstlerduo Yarema & Himey hier filmisch nachinszeniert, sind Bilder von toten russischen Soldaten auf ukrainischem Boden. Dabei beruft sich diese Arbeit ihrerseits auf eine Fotoserie von 1994, als sich die Künstlergruppe Fast Reaction Group um den ukrainischen Fotografen Boris Mikhailov in der Rolle von deutschen Nazisoldaten in der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs inszenierte, in teils frivolen Posen. Wir haben es also mit einem Echo auf ein Echo zu tun: damals ein postsowjetisches Rollenspiel mit der Besetzung durch die Nazis, jetzt diese nachgestellten Bilder von toten Russen, gemäss offizieller Doktrin ja gefallen im Kampf gegen die «Nazis» in der Ukraine.

Orange Rauchwolken

In jedem Krieg wirkt immer ein unbewältigter Rest vorangegangener Kriege nach. «To Watch the War» heisst die Ausstellung in der Coalmine, die Videoarbeiten aus den letzten neun Jahren versammelt, fast ausschliesslich von Künstler:innen aus der freien ukrainischen Szene. Versteht man das nur in seiner elementarsten Bedeutung, führt diese Ansage in die Irre. Eine Kriegsschau ist das jedenfalls nur sehr vereinzelt, und trotzdem: An diesem Titel stimmt vieles. Denn der Krieg, der hier unter Beobachtung steht, hat bekanntlich nicht erst mit der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 angefangen. Und der Angriffskrieg wirft nun seine Schatten auch auf jene künstlerischen Arbeiten zurück, die noch gar nichts von ihm wissen konnten, weil sie teils etliche Jahre davor entstanden sind. Unser nachträgliches Wissen verschiebt den Blick, es lädt diese Werke nochmals anders auf.

Etwa in «Labor Safety in the Region of Dnipropetrovsk» (2018), einem Found-Footage-Film, kompiliert aus Handyvideos. Andriy Rachynski und Daniil Revkovsky haben dafür Videos aus dem Netz gefischt, mit denen Arbeiter:innen die oft unhaltbaren Zustände in der Schwerindustrie oder im Bergbau dokumentiert haben: ein mörderisches Inferno in einer Fabrik, anderswo werden glühende Abfälle deponiert, und ein qualmender Lastwagen am Strassenrand deckt ein Wohnquartier mit orangen Rauchwolken ein – sieht toll aus, aber gefährdet womöglich die Gesundheit. So fügen sich diese Alltagsfilme zu einem Katastrophenkino aus den letzten Tagen des Anthropozäns, abgründiger Slapstick inklusive. Und gegen Ende dann dieser Moment bei einer Sprengung in einem Bergwerk, als ein Arbeiter ausruft: «Hör mal, Putin hat angegriffen!» Nur ein Scherz bei der Arbeit, klar. Aber einer, der schon damals nicht aus dem Nichts kam.

Ganz anders der einzige Film in der Ausstellung, der noch vor der Annexion der Krim im Jahr 2014 entstanden ist. Mykola Ridnyi porträtiert in «Dima» (2013) einen jungen Expolizisten, der ausgestiegen ist, weil er die alltägliche Korruption damals nicht mehr aushielt. Nun arbeitet er als Steinmetz und bekommt vom Regisseur einen speziellen Auftrag: Nach dem Vorbild eines Sowjetdenkmals soll er ein Paar riesige Stiefel meisseln. Der Steinmetz meldet seine Vorbehalte an, weil er weiss, dass solche Artefakte symbolpolitisch ganz unterschiedlich aufgeladen werden können. Sollen diese mächtigen Stiefel, die einst an die Befreiung von den Nazis im Zweiten Weltkrieg erinnerten, jetzt einfach die korrupte Willkür der Polizei symbolisieren, oder was will der Regisseur damit sagen? Ist es der Militarismus, der hier in Stein gemeisselt wird?

Aber manchmal scheint der Krieg in dieser Ausstellung dann doch weit weg. Etwa im Überblendungszauber, den der kurze Essayfilm «Salty Oscillations» (2021) entfaltet – eine Meditation über die klärende Kraft von Salzkristallen rund um die alte Salzminenstadt Soledar in der Oblast Donezk. Und erst recht, wenn sich Oksana Kazmina mit ihren genderfluiden Getreuen eine pflanzensexuelle Waldwesenhippiefantasie erträumt («Miraculous Body Modifications in Carpathian», 2020).

Dekonstruktion statt Boykott

Kuratiert wurde die Ausstellung in der Coalmine von Olexii Kuchanskyi und Oleksiy Radynski. Letzterer, Filmemacher aus Kyjiw, hat sich unlängst in einem Interview im Kunstmagazin «e-flux» gegen einen Boykott von russischer Kultur ausgesprochen. Zwar erachtet er einen solchen auf institutioneller Ebene für zwingend, aber abgesehen davon täte man der imperialen Kultur Russlands mit einem Boykott einen zu grossen Gefallen: «Die russische Kultur verdient eine viel härtere Strafe. Sie verdient eine Dekonstruktion.»

Die wichtigsten Verbündeten für diese Mission findet Radynski ausgerechnet in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts: «Die radikalsten Kritiker Russlands und von allem, was wir daran hassen, waren russische Autoren und Intellektuelle. Sie waren es, die zum Sturz des zaristischen Russlands beitrugen.» Die russische Sprache aufgeben? Sicher nicht, sagt Radynski, man dürfe die russische Sprache doch nicht Putin und den Russ:innen überlassen, gerade jetzt, wo diese daraus eine Art Newspeak gemacht hätten: eine «Nekrosprache», in der man nicht mal mehr das Wort «Krieg» benutzen darf.

Für die Winterthurer Kurzfilmtage hat Radynski nun auch ein Spezialprogramm mitgestaltet. «Films in Dialogue» heisst es, entstanden ist es im Pingpongverfahren mit Festivaldirektor John Canciani. Mittendrin gibts da sogar etwas psychedelische Auflockerung, im ukrainischen Animationsfilm «Deep Love» (2019) von Mykyta Lyskov. Dieser fängt damit an, dass einer Lenin-Statue der Kopf explodiert, bald darauf lässt ein Weisskopfadler, bekanntlich der Wappenvogel der USA, aus einem sowjetsternförmigen Anus ein riesiges Ei auf die Ukraine fallen – und daraus wächst zuerst ein Atom- und dann ein gigantischer Fliegenpilz. Man weiss also von Anfang an, dass man keine Ahnung hat, wo das noch hinführt. Aber es flattern dann dauernd weisse Plastiktüten wie Kapitulationsfähnchen durch die Luft und verstellen den Menschen die Sicht.

Still aus dem Film «Nashi»: Eine junge Frau in Militäruniform
Stramme Parolen: «Nashi» zeigt, wie die Jugend auf Putins Kurs gedrillt wird. Still: Daya Cahen

Am Anfang des Dialogs zwischen Radynski und Canciani steht jedoch eine gespenstische Rückblende: Die niederländische Videokünstlerin Daya Cahen gewährt in ihrem Film ­«Nashi» (2008) einen dokumentarischen Einblick in die gleichnamige Jugendorganisation, die bis zu ihrer Auflösung im Jahr 2013 dazu diente, die russische Jugend auf Wladimir Putins imperialistischen Kurs zu drillen. Im Sommer 2007 war die Regisseurin mit der Kamera beim Nashi-Camp am Seligersee dabei, wo 10 000 Jugendliche auf ihre grosse Zukunft in Putins Russland eingeschworen wurden – eine Art Pfadilager als nationalistische Kaderschmiede, mit strammen Parolen und antiwestlichen Rollenspielen.

Und dort im lichten Wald, zwischen den Bäumen, sieht man auch ihn: Putin, wie er väterlich über das Geschehen wacht. Nicht tot, aber auch nicht lebendig, auf einem riesigen Banner mit seinem Konterfei.

«To Watch the War. The Moving Image amidst the Invasion of Ukraine (2014–2022)». Winterthur, Coalmine, Raum für Fotografie. Bis 18. Dezember 2022.

Die Winterthurer Kurzfilmtage finden vom 8. bis 13. November 2022 statt. Der grosse Fokus gilt Filmen aus den Andenstaaten, die österreichische Regisseurin Kurdwin Ayub wird mit einer Werkschau geehrt. Programm und Informationen: www.kurzfilmtage.ch.