Krieg gegen die Ukraine: Wo die Grenze zur Front wurde

Nr. 11 –

Die Region Sumy ist zum Symbol des ukrainischen Widerstands geworden. Eine Fahrt zu den Schützengräben anderthalb Kilometer vor den russischen Stellungen.

Artem Wolinko (Oberleutnant des ukrainischen Grenzschutzes) mit Gewehr, Helm und Kampfuniform
«Natürlich sind wir alle müde, aber unsere Kameraden im Osten sind noch viel müder»: Artem Wolinko, Oberleutnant des ukrainischen Grenzschutzes.

Oberstleutnant Roman Tkatsch öffnet das Fenster des Autos und nennt einem müde aussehenden Soldaten die täglich wechselnde Parole, die an den militärischen Checkpoints mit den Strassensperren, Betonblöcken und Tarnnetzen ein schnelles Weiterfahren ermöglicht. Es ist bereits der sechste Kontrollpunkt auf der zweistündigen Fahrt von der regionalen Hauptstadt Sumy bis an die ukrainisch-russische Grenze im Nordosten des Landes. Eine Grenze, die mehr als 400 Kilometer lang ist und, seitdem die russischen Truppen auf ihr Territorium zurückgedrängt wurden, mehr einer Frontlinie gleicht.

Eine zu dieser Jahreszeit karge Landschaft zieht am Fenster vorbei: Felder, auf denen das Getreide vom Vorjahr zu sehen ist, das nicht geerntet werden konnte. Zugefrorene Seen, an denen vereinzelt Männer mit Angelruten sitzen und eisangeln. Durch den Asphalt der Strasse ziehen sich Risse und Löcher. «Das hier war einmal der schnellste Weg von der Ukraine nach Moskau», erzählt Tkatsch, als er eine Eisenbahnschiene sieht. Der russische Einmarsch hat in dieser Gegend überall Zerstörung hinterlassen: zerbombte Dörfer, ausgebrannte Tankstellen und verkohlte Autos, verlassene Häuser, die Überreste eines Vergnügungsparks. Erinnerungen an ein einst friedliches Leben.

Hunderte Angriffe allein im März

«Viele Bewohner haben die Gegend verlassen», erzählt Tkatsch. Dann meldet sich eindringlich sein Handy: Luftalarm in Sumy. «Die Angriffe auf die Region haben sich in den vergangenen Wochen intensiviert», sagt er, tippt auf den Bildschirm seines Smartphones, um die Warn-App zu schliessen, und holt sich die neusten Updates über die Lage auf Telegram: Ein russischer MiG-31-Kampfjet hat den Alarm ausgelöst.

Seitdem die russischen Soldaten im April 2022 zurückgedrängt wurden, greift Russland die Region beinahe täglich aus der Luft an. Mit Raketen, Artillerie und Drohnen, mehrere Hundert Mal allein im März. «Die Russen versuchen, uns hier zu halten und zu beschäftigen, damit wir nicht an anderen Punkten eingesetzt werden können», sagt Tkatsch. Wie viele Soldaten bisher an der ukrainisch-russischen Grenze in Sumy gefallen sind, lässt er unbeantwortet.

In der Ortschaft Welyka Pyssariwka, auf halber Strecke zwischen den Städten Sumy und Charkiw, wenige Kilometer von der ukrainischen Stellung entfernt, hält das Auto an. «Hier müssen wir umsteigen», sagt Tkatsch und zeigt auf den gepanzerten Personentransporter, der an einer Tankstelle wartet. Er schüttelt den beiden Soldaten des staatlichen Grenzschutzdiensts, der in Kriegszeiten dem Kommando der Streitkräfte untersteht, die Hand, zieht schusssichere Weste und Helm an und hievt sich auf die Ladefläche des kugelsicheren Militärfahrzeugs. Die rucklige Fahrt durch verlassene Dörfer bis an die ukrainische Stellung dauert knapp fünfzehn Minuten.

Der Kampf um Sumy

Was in den Dörfern nahe der russischen Grenze in den ersten Wochen des Angriffskriegs passiert ist, hat Produzent und Schauspieler Wolodimir Nyankin in einem Film festgehalten. Der 38-Jährige sitzt im Umkleidebereich eines Theaters in der ehemals 260 000 Einwohner:innen zählenden Stadt Sumy und arbeitet an seinem Laptop. «Sumy. The Gut Punch», heisst der Film auf Englisch, der auf Youtube zu sehen ist und für den Nyankin mit rund hundert Menschen gesprochen hat. Viele von ihnen haben die Ereignisse mit ihren eigenen Smartphones gefilmt und dokumentiert.

«Für die meisten in der Ukraine ist die Region Sumy kein interessanter Ort, eher langweilig», erklärt Nyankin. Vor dem Krieg sei es sogar vorgekommen, dass viele den Namen Sumy falsch geschrieben hätten, mit zwei «m». Heute ist die Region Sumy ein symbolischer Ort geworden: ein Ort, an dem sich ganz normale Bürger:innen gegen die russischen Besatzer gewehrt haben.

Nyankin spielt den Film ab, der mit Alltagsszenen aus dem Leben der Menschen vor dem 24. Februar 2022 beginnt. Die echten Helden, die Sumy verteidigt haben, wie er sagt. Und das, obwohl gerade hier kaum eine:r auf die Invasion vorbereitet war. Die territorialen Verteidigungskräfte verfügten über einige wenige tragbare Panzerabwehrwaffen und Molotowcocktails. Mehr als 5000 Sturmgewehre wurden in den ersten Tagen des russischen Angriffskriegs in der Stadt verteilt. Am 27. Februar war die ganze Stadt von schützenden Betonblöcken umgeben, die Zugänge versperrt. Wochenlang gelang es den Selbstverteidigungsgruppen, die russischen Soldaten zurückzuhalten und so die Nachschublinien von der russischen Grenze nach Kyjiw zu unterbrechen.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat die territorialen Verteidigungskräfte von Sumy wiederholt in seinen Videoansprachen gelobt. An Silvester sagte er: «Die Stadt Sumy und ihre Region: Sie waren unter den Ersten, die die Invasion der Eindringlinge in vollem Umfang zu spüren bekamen. Die Region Sumy wurde für diese zu einem Dorn im Auge. Gewöhnliche Menschen haben Molotowcocktails hergestellt, feindliche Kolonnen verbrannt und die ersten Gefangenen gemacht.» Bis heute sind allein in der Stadt Sumy dreissig Zivilist:innen aufgrund des Krieges gestorben. Mehr als 200 Gebäude sind teilweise oder ganz zerstört.

«Fast wie in einem Hostel»

In den vergangenen Monaten sind viele, die aufgrund der Kämpfe geflohen sind, nach Sumy zurückgekehrt. Auch weil die Grenze zu Russland mittlerweile mit Schützengräben verstärkt wurde. «Das war im Oblast Charkiw», erklärt Artem Wolinko (25), Oberleutnant des staatlichen Grenzschutzes, als in weiter Ferne die Artillerie donnert und die Rufe des Greifvogels weit oben in den Baumkronen der Kiefern unterbricht.

Wolinko steht im Schützengraben, der etwa fünfzig Zentimeter breit ist und ihm bis zur Brust reicht. Auf dem Boden liegen Dutzende leere Plastikflaschen, die laut knacken, wenn man versehentlich darauftritt. «Das ist eine Art Alarmanlage gegen den Feind», sagt er und erklärt, wie nahe sich die russischen Stellungen befinden. Eineinhalb Kilometer von hier, auf der anderen Seite des Kiefernwalds, der wie so viele Grenzbereiche zum Schutz vor einer erneuten Invasion vermint wurde.

Vor dem Angriffskrieg, als es hier noch keine Schützengräben gab, war Wolinko ein gewöhnlicher Beamter des Grenzschutzes. «Am 24. Februar haben wir uns auf einen normalen Arbeitstag vorbereitet», erzählt er. «Um 4.30 Uhr begann Russland mit dem Beschuss, und ich musste meine Leute in Sicherheit bringen.» Er bahnt sich den Weg durch den Schützengraben und zeigt, wo die Soldaten übernachten: in einem aus Kiefernholz gebauten Unterstand mit zwei Stockbetten, in dem ein kleiner Ofen für Wärme sorgt. «Fast wie in einem Hostel», scherzt er und zeigt auf den Rauchmelder. Alle drei bis vier Tage rotieren die Soldaten, nicht zu oft, damit die russische Armee nicht auf die Stellung aufmerksam wird.

«Natürlich sind wir alle müde, aber unsere Kameraden im Osten sind noch viel müder», sagt Wolinko. «Wir müssen unsere Pflicht erfüllen. Denn auch hier ist eine Art Frontlinie. Unsere Aufgabe ist es, die Grenze zu sichern, die Drohnen abzufangen und russische Provokationen zu verhindern.» Wann er wieder in sein normales Leben zurückkehren oder seine Partnerin sehen kann, die sich ebenfalls der Armee angeschlossen hat, ist ungewiss. Es könnte auch sein, dass Männer wie er irgendwann in den Osten geschickt werden, in den Donbas, wo der Krieg mancherorts zu einem brutalen Stellungskrieg geworden ist und täglich Hunderte Menschenleben kostet. «Alles ist möglich», sagt er mit flacher Stimme.

Durchhalten

Dass manche Europäer:innen in Städten wie Berlin, 1500 Kilometer westlich von hier, derzeit lautstark Friedensabkommen und Verhandlungen fordern, ringt den Soldaten in der Stellung lediglich ein Lächeln ab. «Vor wenigen Tagen warfen die Russen 300 Meter von hier mit Drohnen Granaten ab», sagt Wolinko. «Erst wenn wir unsere Grenzen aus dem Jahr 1991 wiederhergestellt haben, können wir verhandeln. Bis dahin brauchen wir mehr Luftabwehrsysteme für das gesamte Land.» Und für die Soldaten hier gilt: durchhalten.

Natürlich, erklärt Filmemacher Wolodimir Nyankin, habe es in Sumy auch die anderen gegeben, jene, die mit der russischen Besatzung zusammengearbeitet hätten, Saboteure, Kollaborateurinnen. In seinem Film kommen sie nicht vor. «In jedem Land gibt es gute und schlechte Menschen. Nur: Jetzt gerade ist nicht die Zeit, um alle Details über den Beginn des Krieges zu zeigen. Es wurden Fehler gemacht. Aber was hilft es mir, mich mit diesen Fehlern zu beschäftigen, während wir noch immer täglich angegriffen werden?»

Etwa achtzig Prozent der Menschen in Sumy hätten Verwandte in und Verbindungen zu Russland, sagt Nyankin. Er ist einer von ihnen. Sein Vater, seine Grossmutter, sein Onkel – sie alle leben in Russland, und Nyankin selbst hat in Moskau studiert. «Moskau war einmal das Zentrum in Osteuropa, wenn man Talent hatte und Geld verdienen wollte.»

«Hallo, Papa. Schau nicht fern»

Damals, bevor Russland 2014 die Krim völkerrechtswidrig annektierte, gab es in der Region Sumy 24 Grenzübergänge. Der Krieg im Donbas und später die Coronapandemie sorgten dafür, dass die meisten Kontrollpunkte nach und nach geschlossen wurden. Das letzte Mal war Nyankin 2018 in Russland.

Seit dem Krieg hat er mit seinen Verwandten in Russland kaum noch Kontakt. Er holt sein Smartphone und liest die Nachricht vor, die ihm sein Vater am 27. Februar 2022 aus Moskau schickte: «Sohn, ich kann an nichts anderes denken. In den Nachrichten im Fernsehen und im Internet zeigen sie schreckliche Bilder aus Charkiw. Ich war unter Schock, deshalb habe ich dir nicht sofort geschrieben oder angerufen. Wie geht es dir? Ich mache mir Sorgen um dich. Ich hoffe, dass alles bald vorbei ist.» Nyankins Antwort: «Hallo, Papa, schau nicht fern. Ruf mich an, wann du willst.»

Sein Vater, so Nyankin, sei der «neutrale Typ». Einer, der über den Krieg deshalb schockiert ist, weil sein Sohn davon betroffen ist, nicht aber, weil Russland in ein Land einmarschiert ist und seither Zehntausende Kriegsverbrechen begangen hat. «Er denkt, dass es gut ist, mein Leben zu retten. Er denkt nicht an den Rest der Gesellschaft.» Wahrscheinlich werde er seine Verwandten nie wieder sehen, glaubt Nyankin. «Die einzige Chance wäre es, sie in einem neutralen Land zu treffen. Aber ich glaube, dass sie Russland niemals verlassen werden.»

«Die Russen gehen in die Defensive»

Wie lange der Krieg dauern wird, das traut sich an der ukrainischen Stellung an der Grenze niemand vorauszusagen. Serhi Bereschny hält ein Antidrohnengewehr in der Hand. «Made in Ukraine», sagt der 25-Jährige und erklärt, wie es eingesetzt wird. Wenn die russischen Soldaten Drohnen schicken, fängt er deren Signale mit seiner Waffe so lange ab, «bis der Akku der Drohne leer ist und sie einfach vom Himmel fällt».

Bereschny glaubt nicht, dass die russische Armee eine erneute Invasion von Norden starten wird. «Die ukrainischen Streitkräfte sind gut vorbereitet, und was wir auf der anderen Seite der Grenze beobachten, wirkt eher so, als ob die Russen in die Defensive gehen und Schützengräben anlegen.»

So wie Artem Wolinko stammt auch Bereschny aus der Gegend. Wenn die beiden miteinander sprechen und scherzen, wirken sie jünger, als sie sind. Wie zwei Burschen aus dem Ort, von denen keiner zugeben will, dass die Zigarettenstummel neben den Schützengräben von ihnen stammen.

Bereschny sagt, dass er sich einfach nur die Zeit zurückwünsche, als Schmuggler das grösste Problem in der Grenzregion Sumy gewesen seien. Er vermisst es, nach der Arbeit nach Hause zu seiner Familie zu kommen, die nach Polen geflüchtet ist. Das Wichtigste, sagt er, sei die Einstellung. «Ich glaube, dass alles gut wird. Wir müssen nur diesen Krieg zu Ende bringen.»