Rückschaffungszentrum Gampelen: Nesurasa Rasanayagam kam nicht mehr zurück

Nr. 44 –

Ein Geflüchteter wurde Anfang Jahr im bernischen Gampelen tot in einem Entwässerungskanal aufgefunden. Seine Geschichte zeigt, wie die Behörden mit schutzsuchenden Menschen umgehen.

Haus des Rückkehrzentrum Gampelen
Rückkehrzentrum Gampelen im Berner Seeland: Unter Geflüchteten und Ak­ti­vist:in­nen hat es den Ruf, den Bewohner:innen das Leben besonders schwer zu machen. Foto: Raphael Moser, Tamedia

Am Nachmittag des 15. Februar 2022 verlässt Nesurasa Rasanayagam das Haus und kommt nicht mehr zurück. Auch an den drei folgenden Tagen nicht. Seine Zimmergenossen und Freunde im sogenannten Rückkehrzentrum für abgewiesene Asylsuchende im bernischen Gampelen können ihn telefonisch nicht erreichen und befürchten, dass er von den Behörden nach Sri Lanka zurückgeschafft worden ist. Oder dass er aus Angst vor einer bevorstehenden Ausschaffung untergetaucht ist.

Bereits vier Jahre zuvor hat sich Rasanayagam aus diesem Grund längere Zeit versteckt. Rasanayagam war 2015 aus Sri Lanka geflohen, wo trotz Ende des Bürgerkriegs 2009 der Konflikt weiterschwelt. Er werde sowohl von der Regierung als auch von tamilischen Rebellen, von denen er sich habe lösen wollen, verfolgt, legte er den Schweizer Behörden wiederholt dar. Doch weder Behörden noch Gerichte glaubten ihm – sein Asylgesuch wurde abgelehnt, Rekurse und Wiedererwägungsgesuche scheiterten. Die Asylbehörden hätten Rasanayagams komplexe Situation nicht umfassend angeschaut, kritisiert ein Rechtsberater, der mit dem Fall vertraut ist, aber anonym bleiben möchte. «Genau deshalb kommt es bei komplizierteren Fällen leider sehr oft zu negativen Asylentscheiden.»

Viele leben in ständiger Angst vor einer gewaltsamen Rückschaffung.

Dieses Mal hat sich der 49-Jährige nicht versteckt – er ist auch nicht ausgeschafft worden. Zwei Tage nachdem er verschwunden ist, sieht eine Spaziergängerin unweit der Asylunterkunft, die mitten im weiten Gemüseanbaugebiet des Berner Seelands liegt, an der Böschung eines Entwässerungskanals ein Paar Schuhe stehen. Als sie am Tag darauf mit ihrem Mann wieder an der Stelle vorbeikommt, sehen sie im Kanal eine Jacke treiben. Sie alarmieren die Polizei, die kurz darauf den Leichnam von Nesurasa Rasanayagam findet, der im nur einen Meter tiefen Wasser treibt. So steht es im Polizeibericht.

Gegen den Willen der Familie

Der Amtsarzt findet bei einer äusserlichen sogenannten Legalinspektion keine Anzeichen für Fremdeinwirkung vor, gleichzeitig schliesst er eine natürliche Todesursache aus. Weder Todesart («Suicid? Unfalltod?», notiert der Arzt auf dem Formular) noch Todesursache («Ertrinkungstod? Tod durch Unterkühlung?») werden restlos geklärt. Entgegen dem erklärten Willen der Angehörigen in Sri Lanka wird keine Obduktion gemacht. Eine solche sei möglich, müsse jedoch selber bezahlt werden, schreibt die Staatsanwältin zuhanden der Familie. Doch da, sechs Tage nach dem Auffinden der Leiche, ist diese von den Behörden bereits eigenmächtig kremiert worden – obschon Freunde zuvor mehrfach und teils persönlich bei den Behörden vorstellig geworden waren und gesagt hatten, dass die Familie die Überstellung nach Sri Lanka wolle und aus religiösen Gründen keine Einäscherung wünsche, wie Akten zeigen.

Wie aus behördeninternen Mails, die der WOZ ebenfalls vorliegen, hervorgeht, wollten die Behörden nicht zuletzt Kosten sparen: «Die Kosten für eine Überführung des Leichnams nach Sri Lanka würde unser Kostendach von CHF 7500 sprengen.» Auf Anfrage schreibt der Kanton, dass man sich vor der Kremation mit den Angehörigen ausgetauscht habe. Involvierte Personen verneinen jedoch gegenüber der WOZ, dass es zu solchen Kontakten gekommen sei. Sie beklagen zudem, dass die zwei Ringe und eine Kette, die der Verstorbene trug, nie bei seiner Familie angekommen seien.

Die Berner Behörden hatten Rasanayagam im Herbst 2020 in Gampelen platziert. Das Zentrum war damals eine von drei Unterkünften, in denen der Kanton seit dem Frühsommer 2020 Menschen mit negativem Asylentscheid unterbringt. Nach ihrer Eröffnung sorgten diese schon bald wegen der miserablen Lebensbedingungen für Kritik. Die Kommission zur Verhütung von Folter des Bundes schrieb Anfang 2022 von herrschender Perspektivlosigkeit, sexuellen Übergriffen, Gewalt, fehlender Privatsphäre, unzureichender medizinischer Betreuung, zu engen Platzverhältnissen sowie von zu tiefen Nothilfeansätzen. Betrieben werden die Zentren von der ORS AG, die inzwischen dem britischen Konzern Serco gehört. Letzterer betreibt weltweit Asylzentren und Gefängnisse und steht dabei ebenfalls schon lange wegen der Zustände in den Einrichtungen in der Kritik. Das Zentrum in Gampelen hat unter Geflüchteten und Aktivist:innen den Ruf, den Bewohnenden das Leben besonders schwer zu machen.

Obschon die Antifolterkommission dem Kanton empfahl, die Belegung des Zentrums in Gampelen auf 72 Personen zu beschränken, sind in der Unterkunft heute laut Kanton «rund neunzig Personen» untergebracht. Früher wurden auch Frauen hier einquartiert, inzwischen sind es nur noch Männer. Aus Sicht der Behörden müssen sie die Schweiz verlassen, was die Betroffenen aus unterschiedlichen Gründen jedoch nicht können. Sie sitzen fest. Und sie leiden. Dies wird an einem sonnigen Oktobernachmittag im Dorfzentrum von Ins deutlich. Hier, in einem Treff, organisieren das Migrant Solidarity Network und andere Menschenrechtsaktivist:innen jede Woche eine Zusammenkunft für die Menschen aus dem Asylzentrum. Rund dreissig Personen sind diesmal gekommen. Das sei jeweils ein wichtiger Nachmittag, sind sie sich alle einig: Sie entfliehen hier etwas dem Alltag und erhalten Unterstützung.

Ein junger Geflüchteter erzählt vom Abschiedsbrief, den er schon geschrieben hatte, weil er es nicht mehr aushielt. «Unsere Situation ist perspektiv- und hoffnungslos.» Viele leben in ständiger Angst vor einer gewaltsamen Rückschaffung. Das Leben im Camp, wie die Bewohner ihre Unterkunft nennen, sei zudem enorm stressig, eigentlich nicht auszuhalten. In den Mehrbettzimmern fehle es an Privatsphäre; diese könnten nicht abgeschlossen werden, täglich komme Aufsichtspersonal ohne Vorankündigung zur Zimmerkontrolle vorbei. Dem Personal fehle es an grundlegenden Fähigkeiten im Umgang mit Menschen, sagt einer. Wie in einer Diktatur fühle er sich dort, ergänzt ein anderer. Ein Dritter erzählt in breitem Berndeutsch von täglichen Schikanen. Jeden Morgen müssen alle ihre Anwesenheit mit Unterschrift bestätigen, sonst verlieren sie ihre Nothilfe. Übernachten bei Freund:innen wird so praktisch verunmöglicht. Andere schildern, wie das Leben mit den acht Franken Nothilfe pro Tag eigentlich nicht machbar ist – schon die Zugfahrt in die Städte Biel oder Bern wird so unbezahlbar.

Ungeeignete Medikamente

Arbeiten dürfen abgewiesene Asylsuchende nicht. Sie leben isoliert von der Gesellschaft: Das Zentrum befindet sich in einer fernab aller Siedlungen errichteten ehemaligen «Trinkeranstalt», was für jeden Einkauf eine mehr als einstündige Wanderung bedingt. «Manchmal macht mich die Situation aggressiv», sagt ein jüngerer Mann. Er sei deshalb schon mehrfach in Handgreiflichkeiten verwickelt gewesen. «Ich mache mir Sorgen, dass ich mal komplett ausraste», sagt er nachdenklich. Das alles mache einen krank. Gemäss Antifolterkommission leidet die Mehrheit der Bewohner:innen der Berner Rückkehrzentren an psychischen Beschwerden.

Mehrere Geflüchtete erzählen, dass ihnen gegen ihre psychischen Erkrankungen lediglich ungeeignete rezeptfreie Schmerzmittel abgegeben würden. Aktivist:innen beobachten auch, dass viele mit starken, süchtig machenden Beruhigungsmitteln ruhiggestellt würden.* Bewohner schildern zudem, wie sie erst nach längerem Insistieren den ihnen zugeteilten Hausarzt aufsuchen durften. Und dann habe ihnen dieser schlicht nicht geglaubt.

Auch Rasanayagam war am Tag vor seinem Verschwinden beim Arzt, so erzählen es mehrere Personen. Nicht zum ersten Mal. Denn wie viele andere Bewohner des Zentrums litt er neben schweren psychischen Problemen auch an einer schweren Alkoholsucht. Wie viele trank er den billigsten Wodka aus dem Denner, gemischt mit Fruchtsäften. Behandelt worden sei die Suchterkrankung auch bei ihm nicht, obwohl seine Freunde insistiert hätten, sagt ein Mitbewohner.

Wenn er weniger trinke, bekomme er von den vielen Sorgen und Gedanken Kopfschmerzen, habe der inzwischen Verstorbene einmal gesagt, erzählt ein Freund. Nacht für Nacht habe Rasanayagam jeweils ein ganzes Viererzimmer wachgehalten, weil er alkoholisiert seine in ihm kreisenden Ängste und Gedanken laut vor sich hin schrie und wimmerte. Gedanken an seine Frau und seine drei Kinder, die er teilweise nur als kleine Kinder gekannt hatte und die nun Teenager waren. Es habe Rasanayagam belastet, dass er seine Familie nicht unterstützen konnte. Bis zuletzt machte er sich Hoffnungen, dass das Bundesverwaltungsgericht seinen Entscheid revidieren würde. Einen Termin bei einer Rechtsberatungsstelle hatte er bereits. Zuvor war er an einen betrügerischen Anwalt geraten, bei dem er sich verschuldete.

Der zuständige Regierungsrat, Philippe Müller (FDP), schreibt auf Anfrage, dass man «keinen Anlass zur Annahme» habe, «dass die medizinische Versorgung ineffizient oder nicht bedarfsgerecht gestaltet wäre». Grundsätzlich seien die Rahmenbedingungen in Gampelen «gut». Die Privatsphäre der Bewohner werde vom Personal «ausdrücklich respektiert». Der Kanton, so Müller weiter, «schätzt die Arbeit und das grosse Engagement der ORS».

Besuche im Zentrum sind faktisch unmöglich. Eberhard Jost hat als Seelsorger der lokalen katholischen Kirchgemeinde jedoch einfachen Zutritt.* «Die Begleitung der Personen im Zentrum ist ungenügend», stellt er fest. «Man kann Menschen nicht halten wie Vieh», kritisiert Jost den Kanton und den weit rechts politisierenden Sicherheitsdirektor Müller. Der Kanton verstecke sich hinter Gesetzen, anstatt deren Spielräume zu nutzen. Wie die Menschen aus dem Zentrum schildert auch Jost Fälle, in denen erst seine Intervention dazu geführt habe, dass Erkrankte eine dringend notwendige Behandlung erhielten.

Künstlicher Stress für Gestresste

Der Umgang mit abgewiesenen Geflüchteten ist schweizweit rau, wie ein Blick in die «Empfehlungen» der Konferenz der kantonalen Sozialdirektor:innen (SODK) zeigt. «Massgebend» für medizinische Behandlungen sei «nicht das von der betroffenen Person formulierte Bedürfnis, sondern die Einschätzung der zuständigen Behörden» oder des Personals der Unterkunft. Die SODK rät auch, die Betroffenen ständig in Ungewissheit über die behördlichen Pläne zu lassen. So solle die Nothilfe, obwohl sie allen Bedürftigen gesetzlich zusteht, «etappiert und befristet» werden, «damit nicht der Eindruck einer Dauerlösung und der Duldung der Daueranwesenheit entsteht» – künstlicher Stress für gestresste, vulnerable Personen, die ganz allein mit diesem zurechtkommen müssen. Die SODK schreibt zudem, dass «die Betreuung in der Nothilfe auf das absolut notwendige Minimum beschränkt» zu sein habe.

Rasanayagam wurde von seinen Mitbewohnern in Gampelen «Aya» genannt, eine höfliche tamilische Anrede für ältere Männer. Er sei erschrocken, als er gehört habe, dass Aya noch nicht einmal fünfzig Jahre alt gewesen sei, sagt ein Mitbewohner. Er habe uralt ausgesehen. Das Asylwesen und das Camp in Gampelen setzte jedoch allen zu. «Wir kommen hier jung an und sind schon bald alt.»

Leitartikel zum Thema in der gleichen Ausgabe: «Asylsuchende: Die Schweiz hat Platz»

* Korrigenda vom 22. November 2022: In der Printversion und in der alten Onlineversion hiess es, dass im Rückkehrzentrum Gampelen Geflüchtete von der Zentrumsleitung mit Beruhigungsmitteln ruhiggestellt würden. Korrekt ist, dass die Leitung des Zentrums selbst nicht befugt ist, verschreibungspflichtige Medikamente abzugeben. Ebenso existiert im Zentrum kein eigentliches Besuchsverbot. Private Besucher:innen der Bewohner wie auch Aktivist:innen berichten aber von hürdenreichen Zugangsregelungen, die das Besuchsrecht in der Praxis häufig aushebeln.