Leben in der Nothilfe: Mit unerbittlicher Härte

Nr. 11 –

Abgewiesene Asylsuchende sollen das Land verlassen. Und um das zu erreichen, sind die Behörden bereit, ausgesprochen weit zu gehen. Immer wieder flammt Kritik an deren Praxis auf.

Bis die erzwungene Rückkehr als kleineres Übel erscheint: Zimmer in einem Rückkehrzentrum im Kanton Bern. Foto: Marcel Bieri, Keystone

Und wieder gibt es eine Welle der Kritik. Den Anfang machte die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF). Im Auftrag des Berner Regierungsrats hat sie die Lebensumstände in den kantonalen Rückkehrzentren untersucht. In diesen Zentren werden Personen untergebracht, die rechtskräftig aus der Schweiz weggewiesen wurden und die von der Nothilfe leben. Die NKVF kam in ihrem im Februar publizierten Bericht zum Schluss, dass die Umstände in den Zentren besorgniserregend seien. Die Situation sei insbesondere für Familien und Kinder nicht menschenwürdig (siehe WOZ Nr. 7/2022 ).

Anfang März doppelten über 450 medizinische Fachpersonen nach. In einem offenen Brief fordern sie dringend eine Anpassung der herrschenden Praxis. «Wir sehen uns verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass die Leidenszustände durch die prekären, menschenunwürdigen Lebensbedingungen im Nothilferegime in unverantwortlicher Weise verschärft werden», schreiben sie im an diverse Politiker:innen und Behördenstellen adressierten Brief. Die Nothilfe mache die Betroffenen systematisch krank.

Grausame Stellschraube

Bekele Ibsa heisst eigentlich anders. Der aus Äthiopien Geflüchtete möchte seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen, weil er nicht will, dass ihn seine Vergangenheit einholt. Inzwischen hat Ibsa einen geregelten Aufenthaltsstatus und eine Arbeit. Sein sechstes Wiedererwägungsgesuch wurde angenommen. «Ich hatte Zeit, die Wunden verheilen zu lassen, die die Gewalt im Rückkehrzentrum hinterlassen hat», sagt er. Drei Jahre lang war er dort untergebracht, in einem kleineren Kanton, weit weg vom nächsten Ort, rund eine Stunde Gehweg von der nächsten Busstation entfernt, und noch heute fragt er sich: «Wie ist es möglich, dass die Schweizer Behörden systematisch derart drastische Gewalt anwenden – und sich scheinbar niemand daran stört?»

Gemäss der neusten verfügbaren Erhebung von 2020 leben in der Schweiz rund 6500 Personen von der Nothilfe. Verantwortlich für die Umsetzung sind die Kantone. Der Bund richtet ihnen dafür pro Fall eine Pauschale aus. Dafür veranschlagt er tägliche Kosten von rund 55 Franken. Gemäss Asylgesetz soll ein Grossteil der Nothilfe in Form von Sachleistungen erbracht werden. Konkret: In den meisten Kantonen werden den Betroffenen zwischen acht und zehn Franken pro Tag direkt ausgezahlt. Untergebracht werden sie in Sammelunterkünften. Seit der letzten Asylgesetzrevision, die 2019 in Kraft trat, werden diese gemeinhin «Rückkehrzentren» genannt.

Das Nothilferegime dient entgegen seines euphemistischen Namens eben nicht primär der Unterstützung, es soll die Betroffenen zermürben. Personen, die nicht ausgeschafft werden können, sollen zur Ausreise gedrängt werden: Die Behörden setzen die finanzielle Hilfe so tief an und knüpfen sie an Bedingungen, die die Lebensumstände der Bezüger:innen so unerträglich machen, dass diese das Land «freiwillig» verlassen. Dazu gehört etwa die Unterbringung in besagten Rückkehrzentren. In manchen Kantonen, etwa in Zürich und Bern, besteht eine De-facto-Anwesenheitspflicht: Die betroffenen Personen müssen jeden Tag eine Unterschrift im Zentrum hinterlassen, um ihr Geld zu erhalten.

Es ist eine der Stellschrauben des Schweizer Asylsystems: Die Behörden ziehen sie so lange an, bis die Rückkehr in das Land, das die Geflüchteten oft unter viel Mühe verlassen haben, als kleineres Übel erscheint. «Wir wurden in diesen Zentren zusammengetrieben, vom Rest der Gesellschaft isoliert – und dann fertiggemacht, ohne dass jemand etwas davon erfahren sollte», sagt Bekele Ibsa.

Systematische Entmutigung

Der Psychologe Urs Ruckstuhl hat den kürzlich versandten offenen Brief mitinitiiert. Grundlage dafür ist ein Bericht über die psychischen Gesundheitsfolgen des Nothilfesystems, den er gemeinsam mit anderen Expert:innen schon im letzten Jahr veröffentlicht hatte. Die Autor:innen haben darin die staatlichen «Strategien der Entmutigung und Zermürbung» untersucht.

Dazu gehören gemäss dem Bericht die Isolation in abgelegenen Unterkünften, das Berufsverbot und die damit einhergehende Unterbeschäftigung, die bewusst herbeigeführte extreme Armut und eine mangelhafte medizinische Versorgung. All diese Faktoren führten zu Depressionen, Schlaflosigkeit und psychosomatischen Beschwerden. In vielen Fällen würde die Repression bei Geflüchteten ausserdem retraumatisierend wirken.

Bekele Ibsa denkt noch oft an seine damaligen Mitbewohner. «Im Zentrum sassen die meisten einfach in einer Ecke und redeten nicht.» Fast alle hätten Depressionen gehabt. «Aber zur Behandlung gab es nur Schlafmittel, die den Leuten direkt in den Mund gelegt wurden», sagt er. Besonders schwer wiege die Erinnerung an einen Suizidversuch seines Zimmerpartners. Dieser habe nachts versucht, mit einer Medikamentenüberdosis sein Leben zu beenden. Schliesslich sei er von der Ambulanz gerettet worden.

Das Nothilferegime wird immer wieder medial aufgegriffen. Nennenswert sind etwa die «Stop Isolation»-Proteste in Bern vor zwei Jahren. Bewohner:innen von Berner Rückkehrzentren forderten in mehreren Demonstrationen ein Ende der unmenschlichen Bedingungen. In Zürich stand die Besetzung des Platzspitzparks 2018 im Zeichen der Kritik am Nothilferegime. Zuletzt löste 2020 ein Covid-Ausbruch im Zürcher Rückkehrzentrum Urdorf, einem unterirdischen Zivilschutzbunker, ein mediales Echo aus.

Nur zeitigt die Kritik nie Konsequenzen. Die verantwortlichen Politiker:innen weisen sie in der Regel zurück – mit dem Verweis darauf, dass die betroffenen Personen ja die Schweiz verlassen müssten. Das zeigen auch die Antworten mehrerer Behördenstellen auf den offenen Brief. Der WOZ liegen mehrere dieser Schreiben vor. Exemplarisch ist die Antwort einer Mitarbeiterin des Schwyzer Migrationsamts. Sie schreibt den Absender:innen: «Sie setzen sich für Personen ein, die trotz des fairen Verfahrens, trotz des Angebots, bei der Rückkehr zu helfen, sich ihren Aufenthalt erzwingen wollen.»

Gezielter Angriff auf die Psyche

Dass diese Rechtfertigung verfängt, ist bedrohlich. Urs Ruckstuhl spricht von einer «Dehumanisierung». «Die Gesellschaft schreibt einer Gruppe von Menschen einen bestimmten Status zu, den der ‹Illegalen›, und betrachtet sie dann nicht mehr als Subjekte mit Rechten, Gefühlen und Würde.» Mit der Argumentation, dass sie das Land verlassen müssten, würde der Weg für die Missachtung von Menschenrechten und den gezielten Angriff auf die Psyche der betroffenen Personen geebnet.

«Sobald du einen negativen Entscheid erhältst, bist du nur noch eine Nummer im System», sagt Bekele Ibsa. Die Ausweglosigkeit sei am schlimmsten gewesen. Er musste aus Äthiopien flüchten, weil er als politischer Aktivist verfolgt wurde. Seine Freund:innen verschwanden in Gefängnissen. Die Schweiz erachtet das Land aber weitgehend als sicher und hat in der Vergangenheit in Migrationsfragen mit äthiopischen Staatsvertreter:innen zusammengearbeitet (siehe WOZ Nr. 39/2018 ). «Dass das Staatssekretariat für Migration Äthiopien als sicher eingestuft hat, war wie ein Schlag ins Gesicht», sagt Ibsa. Dass er nicht zurückkehren konnte, sei für ihn klar gewesen. «Aber aus der Schweiz flüchten konnte ich auch nicht, weil die anderen europäischen Staaten mich hierhin zurückgeschafft hätten.»

Also musste er im Rückkehrzentrum bleiben – auf unbestimmte Zeit. Er habe viel über seine Situation nachgedacht. «Zu verstehen, was hier passiert, hat mir immer geholfen», sagt er. Er glaube heute, dass diese Zentren die natürliche Fortsetzung der europäischen Politik seien. «Eigentlich ist das ja nicht neu: In Europa gelten die Menschenrechte, aber ausserhalb Europas sind sie den Staaten egal», so Bekele Ibsa. Im Rückkehrzentrum war er ausserhalb.