Rassismus: «Nun stehen wir mit unseren Fragen alleine da»
Nach mehr als fünf Jahren fiel vergangene Woche das Urteil im NSU-Prozess. Für die Angehörigen der Opfer, die Überlebenden des Neonaziterrors und ihre UnterstützerInnen war der Tag nur eine weitere Station im Kampf um Anerkennung.
Es ist kurz nach 8 Uhr, als in Sichtweite des Gerichts die Namen der Ermordeten verlesen werden. Genannt wird Enver Simsek, der seinen mobilen Blumenstand in Nürnberg aufgebaut hatte und mit acht Schüssen regelrecht hingerichtet wurde. Oder Änderungsschneider Abdurrahim Özüdogru, der in seinem Nürnberger Laden starb. Der Hamburger Gemüsehändler Süleyman Tasköpru, Gemüseverkäufer Habil Kilic aus München und der Imbissmitarbeiter Mehmet Turgut aus Rostock. Da ist Ismail Yasar, der in Nürnberg einen Kebabladen betrieb, der Schlüsseldienstinhaber Theodoros Boulgarides aus München und Mehmet Kubasik, ein Kioskbesitzer aus der Dortmunder Nordstadt. Der Internetcafébetreiber Halit Yozgat, der in Kassel in Anwesenheit eines Geheimdienstmitarbeiters getötet wurde. Und schliesslich die Polizistin Michèle Kiesewetter, erschossen in ihrem Dienstwagen in Heilbronn.
Zehn Menschenleben hat der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) in den Jahren 2000 bis 2007 ausgelöscht. Auch drei Bombenangriffe und fünfzehn Raubüberfälle gehen auf das Konto der rechtsterroristischen Gruppe. Das Motiv der neun Morde an den Kleinunternehmern mit türkischen, kurdischen und griechischen Wurzeln und der Anschläge in migrantisch geprägten Vierteln in Köln und Nürnberg: Rassismus.
An diesem Mittwochmorgen, an dem in einem grauen Betonbau in der Münchner Maxvorstadt das lang ersehnte Urteil im NSU-Prozess fällt, stehen ein paar Dutzend Personen um eine kleine Bühne herum. Einige haben Tränen in den Augen. Nach dem Verlesen der Namen folgt eine Schweigeminute.
Auf dem Platz vor dem Oberlandesgericht herrscht unterdessen dichtes Gedränge. Kamerateams haben ihre mobilen TV-Studios aufgebaut, ReporterInnen schreiten nervös auf und ab. Der Eingang zur nahegelegenen U-Bahn ist gesperrt, die Polizei ist mit einem Grossaufgebot vor Ort. Noch immer warten Interessierte auf Einlass, manche schon die ganze Nacht. Sie hoffen, in Raum A 101 vorgelassen zu werden, wo gleich das Urteil gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte verkündet wird. Nur fünfzig Personen werden am Schluss auf der Zuschauertribüne Platz nehmen können. Das emsige Treiben vor dem Gerichtsgebäude und der ernste Protest auf der anderen Strassenseite: Es sind zwei Welten, die nicht zusammenfinden.
Ende der Aufarbeitung
Kurz vor 10 Uhr spricht Richter Manfred Götzl die entscheidenden Worte. Zschäpe wird für zehn Morde und fast drei Dutzend Mordversuche zu lebenslanger Haft verurteilt. Dann wendet sich Götzl den vier Helfern zu: zehn Jahre Gefängnis für den ehemaligen NPD-Mann Ralf Wohlleben, der die Mordwaffen besorgte; drei Jahre für Holger Gerlach, der dem Trio Papiere beschaffte, und eine dreijährige Jugendstrafe für Carsten Schultze, der sich als Einziger schon vor Jahren von der Neonaziszene losgesagt hat. Und schliesslich zwei Jahre und sechs Monate Haft für André Eminger, der logistische Unterstützung leistete. Während auf der Zuschauertribüne Neonazis johlen, macht sich draussen Fassungslosigkeit breit. Die teils milden Urteile gegen die Mitangeklagten seien ein «Schlag ins Gesicht», ruft auf der Kundgebung eine Rednerin ins Mikrofon. Als Götzl später auch noch Emingers Freilassung anordnet, ist der Jubel seiner Kameraden im Saal nicht mehr zu bremsen.
Spätestens in diesem Moment ist klar: Für das Gericht ist die Aufarbeitung des NSU-Terrors zu Ende. Es bestätigt die These der Anklage, nach der die Gruppe lediglich aus dem Trio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bestand. Eine These, die längst durch die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse widerlegt ist und der auch die Nebenklage von Anfang an vehement widersprach. Eine Annahme, die beispielsweise die Verstrickung des Geheimdiensts mit der Neonaziszene ignoriert. Entsprechend «wütend und enttäuscht» ist Anwältin Antonia von der Behrens. «Gerade die niedrigen Strafen für die Mitangeklagten müssen als Bestätigung der Neonaziszene aufgefasst werden», sagt die Vertreterin der Nebenklage später. Das Gericht habe den Verfassungsschutz und die strukturell rassistischen Ermittlungen zulasten der Angehörigen der Opfer nicht einmal erwähnt, schreibt die Nebenklage in einer Mitteilung.
Wie sich die Ignoranz und der Rassismus der deutschen Behörden im Gerichtssaal fortschreiben, zeigt eine weitere Episode. Als der Vater des ermordeten Halit Yozgat während der mehrstündigen Urteilsbegründung lautstark Gott anruft, droht Richter Götzl ihm mit Rauswurf – im Gegensatz zu den johlenden Neonazis, die er zwar ermahnt, aber nicht rausgeschmissen hatte. Es ist das einzige Mal an diesem Tag, dass er sich persönlich an die Angehörigen der Mordopfer richtet. Ansonsten: kein Wort der Empathie.
Wem die Taten galten
Einen Tag zuvor sitzt Gamze Kubasik auf einer Bühne im Münchner Eine-Welt-Haus. Die junge Frau spricht langsam, wählt ihre Worte mit Bedacht. In jedem davon steckt mehr als ein Jahrzehnt voller Schmerz. «Der NSU hat meinen Vater ermordet, die Ermittler haben seine Ehre kaputtgemacht. Sie haben ihn damit zum zweiten Mal umgebracht», sagt Kubasik. Jahrelang habe sie auf Antworten gewartet. So wie es Angela Merkel den Angehörigen einst versprochen hatte. «Nun stehen ich und meine Familie mit unseren Fragen alleine da.» Ähnlich wird sich nach der Urteilsverkündung ihre Mutter äussern: «Ich danke dem Gericht dafür, dass es mir mit der Ermutigung der Naziszene, mit der ich mich in Dortmund fast jeden Tag auseinandersetzen muss, eine weitere Ohrfeige versetzt hat», sagt ein Anwalt im Namen von Elif Kubasik auf der Kundgebung.
Von Anfang an hatten Ermittlungsbehörden und Medien die Familien kriminalisiert, sie verhöhnt und verdächtigt. These um These wurde ausprobiert: von Habgier zu Drogenhandel, von der türkischen Mafia bis zur PKK.
Dabei hatten die Angehörigen immer auf den rechtsextremen Hintergrund der Taten hingewiesen. Diese stellten eine Kontinuität dar: zu den frühen neunziger Jahren, als in Mölln, Solingen oder Hoyerswerda unter dem Jubel der AnwohnerInnen und in Abwesenheit der Polizei Wohnhäuser von Menschen nichtdeutscher Herkunft und Asylunterkünfte brannten, als eine ganze Generation Rechtsextremer politisiert wurde. Für die migrantischen Gemeinschaften in Deutschland haben sich diese Bilder genauso wie die Namen der Toten von damals ins Gedächtnis gebrannt. Entsprechend hatten sie längst verstanden, wem die Taten des NSU galten.
Kritik der «Triothese»
Kurz nach dem Tod von Halit Yozgat im April 2006 gingen in Kassel und Dortmund die Angehörigen und ihr Umfeld unter dem Motto «Kein 10. Opfer» auf die Strasse. Beachtung fanden ihre Worte nicht. Die vielleicht bitterste Erkenntnis: Die Angehörigen mussten jahrelang dafür kämpfen, dass die Morde an ihren Vätern, Ehemännern oder Geschwistern überhaupt als Verbrechen anerkannt wurden. Nach der Kundgebung vergingen weitere fünf Jahre, bis der NSU durch den Tod von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos enttarnt wurde – obwohl sich diverse V-Personen in deren direktem Umfeld befanden. Gezeigt hat das Vorgehen der Behörden bei den Ermittlungen eines: dass der Staat nicht alle BürgerInnen gleichermassen schützt.
Draussen auf dem Platz posiert ein älterer Herr in Richterrobe. «Die Parole heisst Einzeltäter», steht auf einem Schild, das er vor sich herträgt. Günter Wangerin ist Maler und Aktionskünstler, er hat den Prozess als Zeichner begleitet, Angeklagte und Angehörige, den Richter und die ZuschauerInnen skizziert. Seine Kritik gilt der «Triothese» der Bundesanwaltschaft. Für ihn sind die Mitglieder des NSU «die missratenen Kinder der Gesellschaft». Mit seinem Urteil ziehe das Gericht einen Schlussstrich unter die Ermittlungen, sagt er. Denn was die Gesellschaft nicht wahrhaben wolle – dass nämlich ein Netzwerk Rechtsextremer jahrelang Menschen mit migrantischen Wurzeln ungestraft ermordete –, werde vom Gericht auch nicht anerkannt.
Im Gespräch erinnert Wangerin an ein anderes rechtsextremes Verbrechen der jüngeren deutschen Geschichte: den «Oktoberfestanschlag» von 1980. Lange ging man davon aus, der Täter habe allein gehandelt. Nur hartnäckigen Recherchen sei es zu verdanken gewesen, dass dessen Verstrickungen in die Naziszene schliesslich ans Licht gekommen seien. Vor wenigen Jahren wurden die Ermittlungen wiederaufgenommen. Der Vergleich ist in München dieser Tage oft zu hören. Wangerin hofft, dass auch im Fall des NSU das Verfahren irgendwann wieder aufgerollt wird.
Kein Vergessen
Keinen Schlussstrich unter den NSU-Komplex zu ziehen, das fordern im Lauf des Tages diverse RednerInnen. Die Initiativen, die sich rund um den Prozess gebildet haben und die Angehörigen und Überlebenden unterstützen: Gemeinsam mit den AnwältInnen der Nebenklage haben sie über die Jahre selbst recherchiert, die Erinnerung wachgehalten. Auf den deutschen Staat verlassen wollen sie sich dabei längst nicht mehr.
Auf der Kundgebung verliest ein Mitglied des selbsternannten Tribunals «NSU-Komplex auflösen» seine eigene Anklageschrift: Darin stehen die Namen derjenigen, die mutmasslich in die zehn Morde verwickelt waren, aber nie dafür belangt wurden, und all jener, die über die Jahre zur gesellschaftlichen Akzeptanz von rassistischer Gewalt beigetragen haben: Politikerinnen und Polizeibeamte, Journalisten und Mitarbeiterinnen des Verfassungsschutzes. Viele MedienvertreterInnen sind da längst wieder abgereist.
Worum es in Zukunft gehen wird, macht am Abend das Antifa-Netzwerk NSU-Watch klar, das den Prozess akribisch dokumentiert hat: «Wir haben wieder einmal erkennen müssen, wie leer Aufklärungsversprechen sein können und wie hoffnungsvolle Erwartungen an diesen Prozess enttäuscht wurden. Wir müssen und werden dies weiterhin selbst in die Hand nehmen. Wir werden nicht vergessen.»