Wahlsystem in den USA: Todesdrohungen und Bürgerkrieg
Die Midterms im November sind ein Härtetest für die USA, die sich gerne rühmen, die älteste Demokratie der Welt zu sein. Wird die 330-Millionen-Nation es schaffen, freie und faire Wahlen zu gewährleisten? Oder ist sie bereits ein «failing state», ein scheiternder Staat?
Das Wahlsystem der USA ist unglaublich föderalistisch, total unübersichtlich und äusserst reparaturbedürftig. Doch nationale Wahlrechtsreformen scheitern regelmässig am Widerstand der Republikaner:innen. So auch das jüngste, nach dem bekannten Bürgerrechtler John Lewis benannte Wahlgesetz, das einheitliche nationale Standards einführen und die Stimmabgabe für alle US-Amerikaner:innen erleichtern wollte. Der heutige Wirrwarr von einzelstaatlichen Verordnungen ist eine gefährliche Schwachstelle der US-Demokratie.
Die Lüge von der «gestohlenen Wahl»
Die Midterms Anfang November sind die ersten landesweiten Wahlen seit dem Putschversuch vom 6. Januar 2021. Ihr Resultat wird ein wichtiger Anhaltspunkt dafür sein, ob der Sturm aufs Kapitol ein vereinzelter verzweifelter Akt von Extremist:innen war – oder aber ein Meilenstein bei Amerikas Abstieg in den Autoritarismus.
«Es kommt mir vor, als müssten wir den Kampf um Bürgerrechte wieder von vorn anfangen.»
Letetia Jackson, Klägerin vor dem Supreme Court
Die Resultate der Vorwahlen stimmen nicht gerade optimistisch. Die grosse Mehrheit der republikanischen Kandidat:innen für einen Sitz im US-Kongress oder für Schlüsselpositionen in den US-Bundesstaaten sind sogenannte «election deniers». Das heisst, sie vertreten und verbreiten nach wie vor Expräsident Donald Trumps Lüge von der «gestohlenen Wahl». Tatsache ist: Wahlbetrug hat in der Geschichte der USA noch nie eine nennenswerte Rolle gespielt. Auch nicht bei der Präsidentschaftswahl 2020. Trotzdem behandelt die Verliererpartei die Wähler:innen, vor allem Angehörige von Minderheiten, wie potenzielle Betrüger:innen, denen man das Handwerk legen muss. Bereits äussern Dutzende von republikanischen Politiker:innen Zweifel an der Legitimität der nächsten Wahl – falls das Resultat zu ihren Ungunsten ausfallen sollte. Die militante Rechte droht im Fall einer Niederlage gar grossmäulig mit Gewalt und «Bürgerkrieg».
Landauf, landab kandidieren also Trumpist:innen, die die Spielregeln der Demokratie nicht mehr anerkennen. Und viele von ihnen werden höchstwahrscheinlich gewählt werden. Im hart umkämpften Bundesstaat Arizona zum Beispiel gewann der Wahllügner Mark Finchem im August die republikanischen Vorwahlen. Und zwar nicht trotz, sondern vielmehr wegen seiner Mitgliedschaft bei der rechtsextremen Miliz der Oath Keepers. Er hat alle Chancen, Secretary of State zu werden und damit im Bundesstaat die Oberaufsicht über die Wahlen zu übernehmen.
Einschüchterung und Manipulation
Nach Trumps Wahlniederlage haben Republikaner:innen in Dutzenden von US-Bundestaaten Gesetze zur Sicherung der «Integrität der Wahlen» verabschiedet. Die neuen Wahlgesetze öffnen Tür und Tor für eine parteiische Einflussnahme auf den Urnengang. Nicht unparteiliche Wahlexpert:innen, sondern Politiker:innen sollen künftig über die Besetzung der Wahlbüros entscheiden, die IT-Programme der Wahlgeräte bewerten oder auf einer Handauszählung bestehen können. Auch die Auswertung der Stimmen und die Zertifizierung des Resultats liegt vermehrt in der Verantwortung politischer Machthaber:innen. Zudem werden in republikanisch regierten Bundesstaaten beachtliche finanzielle Ressourcen zur Bekämpfung von «Wahlverbrechen» und zur strafrechtlichen Verfolgung von fehlbaren Wahlhelfer:innen bereitgestellt.
Die Einschüchterung des Bodenpersonals der US-Wahlen, das heisst all jener Leute, die oft freiwillig und unbezahlt Stimmen sammeln, prüfen und auszählen, ist ein besonders düsteres Kapitel. Während der Anhörungen zum Putschversuch vom 6. Januar bezeugten Wahlhelfer:innen unter Eid, wie sie und ihre Familien bedrängt und bedroht wurden, bis sie sich nicht mehr aus dem Haus wagten. Hässliche und äusserst detaillierte Todesdrohungen machten selbst vor republikanischen Beamt:innen nicht halt, wenn diese den regulären Wahlsieg von Joe Biden bestätigten. Wie beabsichtigt, bewirkten die Angriffe von rechts einen massenhaften Abgang von erfahrenem Wahlpersonal und einen grossen Verlust an institutionellem Wissen.
Trotz aller Behinderungen sind die Vorbereitungen zu den Zwischenwahlen bisher einigermassen ordentlich verlaufen. Doch in diesen letzten Wochen vor der Novemberwahl wird das sowieso schon unterbesetzte Wahlpersonal mit Tausenden von Einsprüchen gut organisierter rechter Gruppierungen überschwemmt, die die Rechtmässigkeit der Wählerverzeichnisse infrage stellen. Diese Eingaben zu bearbeiten, braucht Zeit – die dann unter anderem fehlt, um neue Wähler:innen zu prüfen und zu registrieren. Auch steigt der Druck auf die Beamt:innen, die Wahlverzeichnisse schon vorab von möglichen Ungereimtheiten zu «säubern». Das bedeutet meist die Streichung von sozial benachteiligten, weniger gebildeten und Schwarzen Bürger:innen. Und jedes Mal, wenn die Wahlbeamt:innen einen Einspruch von rechts zurückweisen, schreien die Trump-Fans aufs Neue: «Wahlbetrug!»
Demokratische Auslese
Das Gerangel um die Wahlregistrierung ist für Schweizer:innen, die ihre Wahlunterlagen samt adressiertem Antwortcouvert ungefragt per Post zugestellt bekommen, schwer nachvollziehbar. US-Amerikaner:innen kennen an ihrem Wohnort keine Anmeldepflicht. Stattdessen müssen sie sich vor jeder Wahl als Stimmberechtigte registrieren lassen. In manchen Bundesstaaten können Wähler:innen die Registrierung ohne Zusatzaufwand gleich am Wahltag miterledigen. Andernorts gibt es strikte Anmeldefristen, die Wochen oder sogar Monate vor der Wahl angesetzt sind. Auch welche Ausweise für die Aufnahme ins Wahlregister nötig sind und in welchen Fällen eine briefliche Stimmabgabe erlaubt ist, wird ganz und gar föderalistisch geregelt. Die Anforderungen hängen nicht zuletzt davon ab, ob eine Lokalregierung die Stimmbeteiligung eher erhöhen oder bremsen will. Denn seit jeher wird die Registrierung von Wähler:innen in den USA als Instrument zur Kontrolle des Umfangs und der Zusammensetzung der Stimmbevölkerung eingesetzt. Und seit jeher hat diese Auslese einen rassistischen Beigeschmack.
People of Color werden nicht nur bei der Wahlregistrierung benachteiligt, sondern auch am Wahltag selbst. In Stadtteilen mit mehrheitlich afroamerikanischer Bevölkerung gibt es meist weniger Wahllokale, und diese haben kürzere Öffnungszeiten. Ausserdem werden die Wahlbezirke von den Republikaner:innen stets so gelegt, dass die afroamerikanischen Wähler:innen, die mehrheitlich für demokratische Kandidat:innen stimmen, möglichst wenig Einfluss haben. In Florida etwa hat Gouverneur Ron DeSantis die Anzahl der Wahlbezirke mit Schwarzer Mehrheit eigenmächtig von vier auf zwei gekürzt, obwohl die nichtweisse Bevölkerung in Florida zu neunzig Prozent zum rasanten Bevölkerungswachstum beiträgt.
Auch der Südstaat Alabama wollte die Stimmkraft der Schwarzen Wähler:innen durch extremes Gerrymandering, das heisst durch die parteiische Neueinteilung der Wahlkreise, schwächen. Doch dagegen haben Schwarze Wähler:innen und Bürgerrechtsorganisationen Klage erhoben. Sie berufen sich auf den Voting Rights Act von 1965, der solche Diskriminierung ausdrücklich verbietet. Zurzeit wird der Fall Merrill v. Milligan vom Obersten Gericht der USA behandelt, dessen superkonservative Mehrheit allerdings kaum auf Gerechtigkeit hoffen lässt.
«Irgendwie surreal», kommentierte Klägerin Letetia Jackson gegenüber der Fernsehstation CNN. «Es kommt mir vor, als müssten wir den Kampf um Bürgerrechte wieder von vorn anfangen. Als hätten wir das Rad der Geschichte zurückgedreht.»