Demonstrationen in China: Von Marx und Engels inszeniert?

Nr. 48 –

Die Proteste gegen Lockdowns und das Parteiregime haben sich über Monate angebahnt und verbinden verschiedene gesellschaftliche Gruppen. Der Regierung bleibt nicht viel Spielraum.

Protest in Peking am vergangenen Montag
Das leere Blatt Papier ist das Zeichen eines zuweilen lautstarken Protests, hier in Peking am vergangenen Montag. Foto: Getty

«Nieder mit der Kommunistischen Partei!», «Nieder mit Xi Jinping!», «Freiheit statt PCR-Tests!». Was Hunderte Demonstrant:innen am 26. November an einer Strassenkreuzung in Schanghais Innenstadt skandierten, mag jene erstaunen, die sich die Volksrepublik China als gleichgeschaltete Gesellschaft und befriedete Parteidiktatur vorstellen. Doch am vergangenen Wochenende kam es in zahlreichen Städten zu weiteren Protesten. Die Wut richtet sich vor allem gegen die Null-Covid-Strategie der Regierung und die in der Folge gestiegener Infektionszahlen in vielen Millionenstädten verhängten Lockdowns.

«Steht auf, alle, die keine Sklaven mehr sein wollen», wird gesungen – die Nationalhymne.

Diese bringen drastische Einschränkungen im Alltagsleben mit sich. Die Menschen müssen regelmässig PCR-Tests machen lassen, viele dürfen ihre Häuser nicht verlassen und gelangen nicht mehr zur Arbeitsstelle. Zuweilen werden sie nicht angemessen mit Lebensmitteln versorgt. Wer (angeblich) Kontakt zu Infizierten hatte oder sich selbst infiziert, wird gezwungen, Tage oder Wochen in schlecht ausgestatteten Quarantänezentren zu verbringen. Besonders hart treffen die Massnahmen Menschen, die nicht im Homeoffice weiterarbeiten können, Frauen, die zusätzlich die Versorgung von Kindern oder Alten übernehmen müssen, sowie kleine Gewerbetreibende, deren Geschäfte geschlossen wurden.

Ein Feuer entfacht die Wut

Auslöser der Proteste vom letzten Wochenende war das Grossfeuer in einem Wohnhaus in Ürümqi in der Region Xinjiang am 24. November. Beim Brand in einem vornehmlich von Uigur:innen bewohnten Viertel kamen mindestens zehn Menschen ums Leben. Anwohner:innen zufolge waren wegen des Lockdowns Türen verschlossen, sodass sich Menschen nicht aus dem Haus retten konnten. Die örtlichen Behörden bestreiten dies.

Am 25. November demonstrierten Menschen in Ürümqi gegen die Lockdownmassnahmen und die Behörden, die sie für die Todesfälle verantwortlich machten. Einige sangen die Nationalhymne Chinas mit der Zeile: «Steht auf, steht auf, alle, die keine Sklaven mehr sein wollen!» Bemerkenswerterweise demonstrierten hier vornehmlich Han-Chines:innen und keine Uigur:innen. Letztere sind in den vergangenen Jahren als muslimische Gruppe systematisch unterdrückt worden, und die Beteiligung an solchen Protesten wäre für sie äusserst gefährlich.

Ab dem 26. November demonstrierten in mehreren Städten Chinas Hunderte oder Tausende. In Schanghai kamen zumeist junge Leute mit Blumen und Kerzen in der Ürümqistrasse zusammen, um der Toten zu gedenken. Parolen gegen die Lockdowns wurden gerufen, später auch gegen das Parteiregime selbst. Die Polizei hielt sich zunächst zurück, versuchte dann jedoch, die Menge aufzulösen, und verhaftete einige Beteiligte.

Am 27. November versammelten sich in Peking Hunderte Student:innen der Tsinghua-Universität. Sie sangen die Nationalhymne sowie die Internationale, riefen: «Die Freiheit wird siegen!», und verlangten ein Ende der Lockdowns. Wie in Schanghai wurden auch hier blanke Papierbögen hochgehalten als Protest gegen die Zensur. Am Abend trafen sich Hunderte Demonstrant:innen in der Nähe des Diplomatenviertels zu einer weiteren Mahnwache. Auch in Nanjing, Wuhan, Chengdu, Guangzhou, Xi’an, Chongqing und anderen Städten kam es auf Strassen und an Universitäten zu Protesten.

Aufstand im Apple-Gefängnis

Eine solche Protestwelle hatte sich in den letzten Monaten angekündigt. Schon während des Lockdowns im April und Mai in Schanghai hatte es Proteste gegen die Abriegelung von Stadtteilen und Universitäten, die Einweisung in Quarantänezentren und die mangelhafte Lebensmittelversorgung gegeben.

Im Oktober verweigerten in Zhengzhou Tausende Arbeiter:innen die Arbeit im Fabrikkomplex des taiwanesischen Elektronikunternehmens Foxconn. Dort stellen mehr als 200 000 Beschäftigte unter anderem iPhones für Apple her. Nachdem in Zhengzhou die Infektionszahlen angestiegen waren, verfügte die Unternehmensleitung das «Management im geschlossenen Kreislauf» («bihuan guanli»). Eingeschlossen werden dabei die Arbeiter:innen: Solange sie die Fabrik nicht verlassen und in dortigen Wohnheimen oder den Werkstätten schlafen, erlauben die Behörden den Firmen die Fortsetzung der Produktion. Viele Arbeiter:innen hatten Ende Oktober genug davon, zumal auch die Versorgung mit Lebensmitteln mangelhaft war. Sie kletterten über die Fabrik­­­­­zäune und flohen über die Felder.

Unterschiedliche Akteur:innen

Als ab Mitte November landesweit Lockdowns verhängt wurden, häuften sich die Vorfälle. Im Stadtteil Haizhu in Guangzhou, wo viele Wanderarbeiter:innen wohnen, durchbrachen Hunderte die Lockdownabsperrungen und lieferten sich Auseinandersetzungen mit den «grossen Weissen» («da bai»). Das sind die von den Behörden geschickten Ordnungs- oder Sicherheitskräfte in weissen Schutzanzügen. Am 23. November eskalierte die Situation im Foxconn-Komplex in Zhengzhou erneut. Foxconn hatte neue Arbeiter:innen angeworben und hohe Bonuszahlungen versprochen, vor Ort merkten die Neuen dann, dass die Bedingungen schlechter waren als erwartet. Zudem wurden infizierte und nichtinfizierte Arbeiter:innen nicht getrennt. Auch hier kam es zu Zusammenstössen mit den Sicherheitskräften, bei denen Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt wurden.

Das Feuer von Ürümqi führte dann zu den Demonstrationen vom Wochenende. Durch die gestiegenen Inzidenzzahlen und die zahlreichen Lockdowns sind viel mehr Menschen betroffen als noch im Frühjahr, aber nicht alle auf die gleiche Weise.

Wanderarbeiter:innen sind vor allem wütend über Reisebeschränkungen, Einkommensausfälle und schlechte Behandlung. Ihre Löhne sind angesichts der krisenhaften Wirtschaftslage in letzter Zeit kaum erhöht worden. Sie haben kaum Rücklagen, um zeitweise auch ohne Arbeit über die Runden zu kommen. Für sie geht es um ihre Existenz, entsprechend gross ist ihre Wut, die sie gegen Absperrzäune, Überwachungskameras und Polizeikräfte richteten. Das Regime reagierte mit Gewalt.

Junge Leute und Student:innen in den Städten leiden unter der Abriegelung der Wohnviertel, unter Überwachung, Gängelung und Zensur. Auch die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die bei zwanzig Prozent liegt, spielt eine Rolle. Und wer Arbeit hat, kann kaum noch aufsteigen. Selbst im IT-Sektor stagnieren die Löhne, der Arbeitsdruck ist weiterhin hoch. Auch Teile der städtischen Mittelklasse sind unzufrieden. Ihre Einkommen sind durch die Lockdowneinschränkungen und die Krise im Immobiliensektor gefährdet. Die Student:innen und die jungen Leute aus den Städten verlangen «Freiheit» und ein Ende der Zensur. Gegen sie ging die Polizei bisher zurückhaltender vor, drängte Demonstrant:innen ab, nahm einige fest.

Regime in der Zwickmühle

Noch ist unklar, ob die Proteste dieser Gruppen wieder abklingen. Erst wenn sich diese dauerhaft verbinden oder gar zu einer grösseren Bewegung entwickeln, könnten sie dem Regime ernsthaft gefährlich werden. Dieses befindet sich aber bereits in einer Zwickmühle. Es will die Situation entschärfen und die Proteste gegen die Lockdowns schnellstens beenden. Harte Unterdrückungsmassnahmen könnten jedoch zu einer weiteren Eskalation führen. Die Pandemiemassnahmen auszusetzen oder runterzufahren, könnte bedeuten, dass viele alte Menschen sterben, die weiterhin un- oder nicht ausreichend geimpft sind. Auch das könnte zu Protesten führen.

In den letzten Tagen haben die Behörden an manchen Orten die Lockdowns zunächst etwas gelockert und angekündigt, vermehrt alte Leute zu impfen. Wegen der Proteste ist die Polizeipräsenz in den Städten erhöht worden. Universitäten haben ihre Student:innen nach Hause geschickt und auf Onlineunterricht umgestellt. Nachrichten über die Proteste werden weiter zensiert, den Demoteilnehmer:innen vom Wochenende drohen Strafen.

Im Versuch, die Ursachen der Proteste zu verwischen, sprachen Regierungsvertreter zudem von «Infiltration und Sabotage» durch «ausländische Kräfte». In Peking reagierten protestierende Student:innen auf diesen Vorwurf mit der Frage: «Welche ausländischen Kräfte? Marx und Engels?»