Durch den Monat mit Karin Huber (Teil 1): Wie viele Zwangssterilisationen gibt es heute noch?
Die Juristin Karin Huber setzt sich mit dem Verein Avanti donne mit einer Petition dafür ein, dass in der Schweiz niemand mehr ohne Einwilligung sterilisiert wird.
WOZ: Frau Huber, Sie sind Geschäftsführerin von Avanti donne. Was tut Avanti donne?
Karin Huber: Wir verstehen uns als Interessenvertretung von Frauen und Mädchen, die mit einer Behinderung oder einer chronischen Krankheit leben. Wir sind Anlaufstelle für Betroffene, Angehörige und Fachpersonen. Und wir nehmen auch Stellung zu Fragen, die Menschen mit Behinderungen betreffen.
Diese Woche hat in Bern die Wintersession begonnen. Gibt es ein Geschäft, das Sie besonders interessiert?
Ja, gibt es. Wir haben die Petition «Stoppt Zwangssterilisation!» lanciert, weil Zwangssterilisationen gegen die Menschenrechte verstossen.
Sind in der Schweiz Zwangssterilisationen wirklich noch erlaubt?
Das Sterilisationsgesetz stammt von 2004 und legt als Grundsatz fest, dass die Sterilisation nur bei erwachsenen, urteilsfähigen Personen über achtzehn Jahren mit deren freier und schriftlicher Zustimmung vorgenommen werden darf. Im Gesetz gibt es aber einen Vorbehalt. Dieser erlaubt es, «ausnahmsweise» Personen, die «dauernd urteilsunfähig» sind, auch ohne deren Zustimmung zu sterilisieren, wenn – so steht es im Gesetz – die Sterilisation «nach den gesamten Umständen im Interesse der betroffenen Person vorgenommen wird». Das darf schon bei sechzehnjährigen Männern oder Frauen gemacht werden. Diese Regelung verstösst gegen die Behindertenrechtskonvention, die die Schweiz ja unterzeichnet hat.
Aber wenn es im Interesse einer Person ist, die das selber nicht beurteilen kann?
Das geht trotzdem nicht. Es gibt das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Dieses hohe, unantastbare Gut gilt für alle Menschen – auch für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Der Uno-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat das ja im Frühling in einem Bericht über die Schweiz unmissverständlich festgehalten.
Was steht genau da drin?
Konkret empfiehlt der Ausschuss der Schweiz, «die Sterilisation von Menschen mit Behinderungen ohne ihre Zustimmung zu verbieten». Dritte sollen nicht mehr für die Betroffenen entscheiden dürfen, was für sie angeblich gut sein soll. Zudem verlangt der Ausschuss eine Wiedergutmachung für Menschen mit Behinderungen, die Opfer von Zwangssterilisationen geworden sind.
Von wie vielen Betroffenen reden wir?
Das ist gar nicht genau bekannt. Der Uno-Ausschuss stellt in diesem Punkt klar die Forderung, dass genaue Daten über die Sterilisationsverfahren zu erheben seien. Wir von Avanti donne verlangen zusätzlich eine wissenschaftliche Aufarbeitung, um herauszufinden, wer in der Vergangenheit wie betroffen war.
Wird aktuell noch zwangssterilisiert?
Konkrete Einzelfälle kenne ich nicht. Aber letztes Jahr musste der Bundesrat die Interpellation «Sterilisation von Frauen mit einer geistigen Beeinträchtigung. Stand der Dinge» beantworten, die zu dieser Frage genauere Angaben wollte. In seiner Antwort bestätigte der Bundesrat, dass es keine genauen Zahlen gibt. Zwar sollten die Kantone Zahlen erheben, sie tun es aber nicht. Der Bundesrat erwähnt jedoch exemplarisch einige Kantone. Eine Stichprobe im Kanton Zürich hat zum Beispiel ergeben, dass bei acht Wohnheimen – die tausend Menschen mit Behinderungen betreuen – in den vergangenen fünfzehn Jahren zwei Frauen und ein Mann zwangsweise sterilisiert worden sind. Als Grund wurde «grenzverletzendes sexuelles Verhalten» angegeben.
Das sind aber auch schwierige Situationen.
Das stimmt. Ich habe auf unsere Petition auch von einer Mutter eine Rückmeldung erhalten, die sehr kritisch war. Sie schrieb: «Ihr könnt ja gut reden, ihr wisst nicht, wie es ist, wenn man selber betroffen ist.» Das ist zweifellos so; wenn man vom Einzelfall ausgeht, ist es oft sehr schwierig, damit umzugehen.
Wie haben Sie ihr geantwortet?
Ich versuche immer zu erklären, dass es sich um eine grundsätzliche juristische Frage handelt. Die juristische Denke ist den meisten fremd und in solchen Einzelfällen schwer zu erklären.
Sie sind ja promovierte Juristin. War die Mutter mit Ihrer Antwort zufrieden?
Das weiss ich nicht, sie hat sich nicht mehr gemeldet. Was ich aber auch noch sagen möchte: Es bräuchte dringend Beratungsstellen, die auf solche Fragen spezialisiert sind. Die gibt es in der Schweiz aber kaum. Es gibt immer Alternativen zum Zwang, nur ist das manchmal aufwendiger.
Wie geht es mit der Petition jetzt weiter?
SP-Nationalrätin Laurence Fehlmann Rielle wird in dieser Session eine Motion einreichen, die ihre Umsetzung verlangt. Vor einem Jahr war der Bundesrat noch der Meinung, die Ausnahme im Sterilisationsgesetz verstosse nicht gegen die Behindertenrechtskonvention. Inzwischen liegt der Bericht des Uno-Ausschusses vor, seine Antwort ist eindeutig – der Bundesrat kann nun nicht mehr abwiegeln.
Karin Huber (46) ist promovierte Juristin und Kogeschäftsführerin von Avanti donne. Sie lebt in Uster und hofft, dass in den nächsten Tagen noch viele Leute die Petition unterschreiben: act.campax.org.