Durch den Monat mit Karin Huber (Teil 2): «Warum brauchst du ein Doppelbett?»
Barrierefreie Websites fänden alle gut, doch wenn es um Themen wie Liebe, Sexualität oder Elternschaft gehe, werde es schwierig mit der Gleichberechtigung, sagt Karin Huber, Kogeschäftsführerin von Avanti donne.
WOZ: Frau Huber, wir haben letzte Woche über Zwangssterilisation gesprochen, die in der Schweiz bei Menschen mit Behinderungen immer noch möglich ist. Hat unsere Gesellschaft grundsätzlich ein Problem mit der Sexualität und dem Recht auf Reproduktion von Menschen mit Beeinträchtigungen?
Karin Huber: Eindeutig. Dass Menschen mit Behinderung ihre Sexualität leben wollen und Eltern sind, wird bei uns als etwas Problematisches behandelt. Sie werden gerne als «asexuelle, geschlechtslose» Wesen wahrgenommen. Auch gibt es in der Gesellschaft viele Vorurteile gegenüber Eltern mit Behinderung. Bei diesen wichtigen Themen stehen wir bei der Gleichstellung noch ganz am Anfang.
Wie zeigt sich das?
Es gibt inzwischen in vielen Kantonen und Gemeinden Aktionspläne für die Umsetzung der Uno-Behindertenrechtskonvention. Aber dem Geschlecht und der Sexualität von Menschen mit Behinderung wird dabei kaum Rechnung getragen. Ein ausgefeilter Aktionsplan bringt nichts, wenn am Schluss die Zimmer im Wohnheim zu klein sind, um ein Doppelbett aufzustellen, weil niemand daran gedacht hat, dass das auch für Menschen mit Behinderung wichtig sein könnte. Da kommt schnell die Frage: «Wozu brauchst du ein Doppelbett?» Dass Behinderte Beziehungen und Sex haben, kann oder will man sich nicht vorstellen. Das beginnt schon in der Sexualerziehung in der Sonderschulung. Jemand erzählte mir einmal, bei ihnen sei das Thema kaum behandelt worden. Die Lehrer:innen redeten verknorzt über Sex und signalisierten: «Das ist etwas, was euch sowieso nicht betrifft.»
Woher kommt das?
Es besteht immer noch die verbreitete Annahme, dass Menschen mit Behinderungen, insbesondere Mädchen und junge Frauen mit einer geistigen Behinderung, asexuell oder hypersexuell seien. Das ist aber völlig falsch. Diese jungen Menschen haben bezüglich Sexualität dieselben Bedürfnisse und Sorgen wie ihre Altersgenoss:innen, das weiss man aus diversen Studien. Gleichzeitig ist das Risiko für junge Frauen mit einer geistigen Behinderung, zu Geschlechtsverkehr gezwungen zu werden, ausserordentlich hoch. Doch nur ganz selten werden solche Übergriffe der Polizei gemeldet.
Was lässt sich dagegen tun?
Mehr Sensibilität aufbauen. Es tut sich allerdings auch einiges. Die Fachhochschule Luzern gab kürzlich einen Wegweiser für Sozialarbeiter:innen heraus. Der Leitfaden «Ich will mich nicht verstecken!» zeigt auf, wie trans Menschen, die kognitiv eingeschränkt sind, begleitet werden sollen. Es geht um Akzeptanz und Wertschätzung. Gerade Menschen mit einer Beeinträchtigung müssen bei der Entwicklung ihrer Geschlechteridentität besonders gestärkt werden – ohne dass man eigene Vorstellungen auf sie projiziert. Der Grundsatz «Nicht über uns ohne uns» ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig.
Noch mal zu Avanti donne: Wie gross ist die Organisation?
Wir haben etwa 150 aktive Mitglieder, alles Frauen, die selber von unterschiedlichen Behinderungen und chronischen Krankheiten betroffen sind. Unser Jahresbudget ist mit 78 000 Franken leider sehr knapp. Wir zwei Kogeschäftsführerinnen haben zusammen ein Sechzigprozentpensum, für mehr reicht es nicht.
Was unterscheidet Avanti donne von anderen Behindertenorganisationen?
Wir sind eine Organisation von Selbstvertreter:innen. Das unterscheidet uns von den grösseren Organisationen, die häufig von Personen geführt werden, die selber nicht betroffen sind. Zudem verstehen wir uns als feministische Organisation. Gendergerechtigkeit ist ein wichtiges Thema. Auch darin sind wir eine Ausnahme unter den Behindertenorganisationen. Und wir wehren uns entschlossen gegen das Bild der unmündigen, hilflosen Behinderten, das gewisse Verbände und Institutionen von uns zeichnen. Wir tun alles Machbare, um Frauen und Flinta sichtbarer zu machen.
Flinta, wofür steht der Begriff?
Für Frauen, Lesben, intersexuelle, nichtbinäre, trans und agender Menschen – für alle, die in unserer binären Gesellschaft bisher nie angesprochen wurden.
Sie haben eine Sehbehinderung. Wie viel können Sie noch sehen?
Einen kleinen Sehrest habe ich noch. Es ist, wie wenn man durch ein sehr kleines, enges Loch schauen würde. Auf dem Computer oder dem Handy kann ich noch ganz gut lesen. Aber sonst ist es schwierig geworden in den letzten zwei Jahren.
Früher haben Sie normal gesehen?
Meine Ausbildung habe ich als Sehende gemacht. Es ist ein Gendefekt, der dazu führt, dass ich immer weniger sehe. Die Diagnose bekam ich erst mit vierzig. Vorher war mein Leben normal. Wenn ich so sitze, sieht man mir nichts an. Aber sobald ich vom Tisch aufstehe und auf die Strasse gehe, wird es schwierig. In den vergangenen sechs Jahren ist mir mein altes Leben praktisch abhandengekommen.
Die promovierte Juristin Karin Huber (46) ist Kogeschäftsführerin von Avanti donne und hat zwei Töchter im Alter von elf und dreizehn Jahren.