Tunesisches Anwaltskomitee: Verschwundene Beweise, verschleppte Verfahren
Seit bald zehn Jahren kämpfen Anwält:innen für die Aufklärung der Morde an zwei linken Politikern 2013 in Tunesien. Nun legen sie direkte Verbindungen von den Tätern zur damaligen Regierungspartei Ennahda offen.
Am frühen Morgen des 6. Februar 2013 wurde der charismatische linke Politiker Chokri Belaïd vor seinem Haus in Tunis von zwei Männern auf einem Motorrad erschossen. Nur fünf Monate später, am 25. Juli, wurde der Abgeordnete Mohamed Brahmi auf die gleiche Art getötet. Belaïd und Brahmi waren Politiker der linken Volksfront, die mehrere Parteien umfasste. Die Mörder: Salafisten. Doch bis heute sind die genauen Umstände und Auftraggeber ungeklärt.
Die beiden Morde führten in Tunesien zu einer schweren politischen Krise. Landesweite Demonstrationen und ein Generalstreik begleiteten die Trauerfeiern. Die Regierung unter der Muslimbrüderpartei Ennahda musste schliesslich zurücktreten.
Die verlorene Notiz der CIA
Seit nun bald zehn Jahren arbeitet das Komitee für die Verteidigung von Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi daran, die beiden Morde aufzuklären. Doch immer wieder versuchten die Justiz und das Innenministerium, die Arbeit des Anwaltskomitees zu behindern. Beweismaterial ging verloren; darunter etwa eine Notiz der CIA, die das Innenministerium wenige Tage vor Brahmis Ermordung gewarnt hatte, Salafisten würden einen Anschlag auf ihn planen. Brahmi erhielt jedoch keinen Schutz. Von der Notiz bestehen indes Kopien.
Am Freitag stellte nun Ridha Raddaoui, Mitglied des Anwaltskomitees, in Genf neue Erkenntnisse zu den beiden Mordanschlägen vor. Demnach hatte Ennahda-Chef Rached Ghannouchi sehr wohl direkten Kontakt zu Mustapha Khedher, dem Leiter der geheimen Sicherheitsorganisation der Partei im Innenministerium, das in Tunesien auch das Polizeiministerium ist. Ghannouchi hat eine Verbindung zu Khedher bisher stets bestritten. Doch eine Analyse der Telefonate, die Khedher bis zu seiner Verhaftung im Dezember 2013 führte, belegt die Kontakte.
«Khedher war im Zentrum einer Parallelorganisation des Staates», sagt Anwalt Raddaoui. Dieser geheime Apparat habe in direkter Verbindung mit Parteichef Ghannouchi gestanden. Die Mörder der beiden Politiker gehörten der Salafistenorganisation Ansar al-Scharia an und wurden laut Anwaltskomitee von Ennahda unterstützt. Der Sicherheitsapparat der Partei habe demnach etwa junge Männer darin trainiert, wie man von einem Motorrad aus jemanden erschiesse.
Eine weitere Schlüsselperson bei den Morden sei Kamel Bedoui gewesen, so Anwalt Raddaoui. Bedoui, ein pensionierter Armeeoffizier, leitete ab 2011 die Sicherheitsgarden von Parteichef Ghannouchi. Auch Bedoui stand mit Khedher in regem Kontakt: Insgesamt 876 Telefonate zwischen den beiden wurden aufgezeichnet. Mehrere Gespräche führten sie in der Nacht, bevor Brahmi getötet wurde. Auch den letzten Anruf vor seiner Verhaftung machte Khedher an Bedoui.
Der geheime Sicherheitsapparat von Ennahda bespitzelte auch Oppositionelle und Journalist:innen, wie mehrere Tausend Dokumente belegen. Entdeckt worden waren diese Unterlagen zufällig, im Dezember 2013, in der Fahrschule des geheimen Sicherheitschefs Khedher, die dieser offiziell betrieb. In den Dokumenten waren Fotos, Tonaufnahmen und Berichte von Spitzeln – auch über Chokri Belaïd. Khedher liess diese laut dem Anwaltskomitee jeweils Parteichef Ghannouchi zukommen.
Der Deal mit den Mördern
Zu den neuen Informationen in der Sache zählt auch ein Deal zwischen der Ennahda-Partei und der Salafistenorganisation Ansar al-Scharia. So ist, gemäss dem Anwaltskomitee, auch etwa der ehemalige Ennahda-Abgeordnete Habib Ellouz in die Morde verwickelt. Er versuchte, mit einem Deal den Imam Chokri Ben Othman vor einer Anklage zu schützen. Das belegen abgehörte Telefongespräche zwischen Ellouz und dem Kommunikationsverantwortlichen von Ansar al-Scharia.
Imam Chokri Ben Othman hatte im Vorfeld der Morde eine Fatwa erlassen, Chokri Belaïd zu töten. Die Männer, die Belaïd töteten, besuchten regelmässig seine Moschee. Sie alle waren angeklagt worden, jedoch nicht der Imam. Er wurde vom Untersuchungsrichter lediglich als Zeuge angehört und konnte das Land in Richtung Saudi-Arabien verlassen.
Anfang dieses Jahres entdeckte das Anwaltskomitee überdies geheime Kassen von Ennahda, die es seit 2012 gibt. Sie stehen indirekt in Zusammenhang mit den Morden und geben einen Einblick in das grosse Netzwerk der Partei, etwa zu Kontakten mit den Golfstaaten: So hatte ein Strohmann für Ennahda bei der Qatar National Bank zwei Konten eröffnet – und das Kabinett des früheren Emirs von Katar darauf insgesamt 300 Millionen Dollar überwiesen.
Derzeit laufen Ermittlungen und Verfahren gegen mehrere Ennahda-Vertreter, darunter auch Parteichef Ghannouchi: wegen Geldwäsche, unkorrekter Wahlfinanzierung und des Entsendens von Dschihadisten 2013 nach Syrien und in den Irak. Das Anwaltskomitee wird weitere Klagen einreichen – gegen Ghannouchi, Bedoui und Ellouz.