Tunesien: Der Wille zur Demokratie

Nr. 34 –

Tunesiens Regierung steckt in einer Sackgasse. Doch die politische Krise ist eigentlich ein gutes Zeichen: Die TunesierInnen zeigen, dass sie auf dem Weg der Demokratie bleiben wollen. Gewaltlos.

Riesige Werbetafeln mit der tunesischen Flagge säumen die Strassen von Tunis. Sie sollen die TunesierInnen daran erinnern, dass sie alle die Kinder ein und derselben Nation seien. Das Land befindet sich zweieinhalb Jahre nach dem, was als Jasminrevolution in die Geschichte einging, in einer politischen Krise. Der Präsident der verfassunggebenden Versammlung, Mustafa Ben Jaafar, legte die Arbeit seines Gremiums auf Eis, nachdem über 70 der 217 Abgeordneten den Sitzungen aus Protest ferngeblieben waren. Seit drei Wochen füllt sich jeden Abend die Place de Bardo vor dem Parlamentsgebäude mit Menschen, die den Rücktritt der Übergangsregierung unter der Führung der wählerstärksten Partei Ennahda fordern.

Olfa Lajili-Grossenbacher, eine junge Tunesierin mit Verbindungen zur ägyptischen Tamarod-Bewegung, die in der Schweiz studiert hat, sagt: «Die meisten lernen gerade erst, wie Demokratie funktioniert und was das für ihr Leben bedeutet.» Vielen Leuten seien die streitenden PolitikerInnen und demonstrierenden Intellektuellen fremd, Begriffe wie «Verfassung» und «Legitimität» nur Worthülsen. «Es gibt aber viele, die der Überzeugung sind, dass ein demokratisch funktionierendes Tunesien das Einzige ist, wofür sie gekämpft haben – ungeachtet der politischen Gesinnung.» Und das verteidigen die TunesierInnen in diesen Wochen.

Bevölkerung hat die Nase voll

Der unmittelbare Auslöser der Krise war ein politischer Mord: Am 25. Juli erschossen Unbekannte Mohamed Brahmi, einen Abgeordneten der linksoppositionellen Partei Volksbewegung. Am helllichten Tag, vor seiner Haustür und vor den Augen seiner Frau und seiner Tochter. Bereits sechs Monate zuvor war der ebenfalls der Opposition angehörende Chokri Belaid einem Attentat zum Opfer gefallen. Brahmis Tod brachte das Fass zum Überlaufen.

Doch das Hauptproblem ist die wirtschaftliche Entwicklung. Die Revolution hat Tunesien zwar vom Joch des autokratischen Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali befreit, aber manches hat sich auch zum Schlechten gewendet: Der Hunger der Armen, der damals die Revolution antrieb, ist noch grösser geworden. Die Lebensmittelpreise sind so drastisch angestiegen, dass die Inflation selbst den Mittelstand in die Knie zwingt. Früher habe sich eine Familie mit zwei Einkommen ohne Probleme Urlaub leisten und vielleicht sogar die Kinder in eine Privatschule schicken können – auf Pump: «Unter Ben Ali konnte man leicht einen Bankkredit erhalten. Er hat dafür gesorgt, dass die Preise stabil blieben. So hat er die Bürger ruhiggestellt», sagt eine Ökonomin einer grösseren Petroleumfirma.

Ennahda zwischen Stuhl und Bank

Neben der wirtschaftlichen Malaise hat sich die Sicherheitslage verschlechtert. Allein in den Tagen nach dem Mordanschlag auf Brahmi explodierte ein Sprengsatz in einem Polizeiauto in Tunis, neun tunesische Soldaten fielen nahe der algerischen Grenze einem terroristischen Anschlag zum Opfer, und der Innenminister spricht von mehreren verhinderten Attentaten, ohne allerdings Details bekannt zu geben – hinter solchen Aktionen steckten radikale IslamistInnen. Unter dem ehemaligen Machthaber Ben Ali wurden sie genauso wie die gemässigteren Ennahda-AnhängerInnen verfolgt und ins Gefängnis gesteckt. Nach der Revolution erlebten sie eine Renaissance, die Verhafteten wurden freigelassen; sie profitierten als politisch Verfolgte von ihrem Märtyrerstatus sowie vom Nährboden, den ihnen die desolate Wirtschaftslage bot. Der religiöse Fundamentalismus schleicht sich auch in den Alltag ein: «In manchen Moscheen raten Imame den Männern schon, ihre Frauen nicht mehr ans Steuer der Autos zu lassen. Diese Entwicklung macht mir Angst», sagt eine Muslima. Viele TunesierInnen werfen der regierenden Partei vor, nicht entschlossen genug gegen solche Extremisten vorzugehen.

Die Partei sitzt zwischen Stuhl und Bank. Nachdem sie versucht hat, eine religiös geprägte Verfassung aufzusetzen, hat die Ennahda selbst den Rückhalt so mancher MuslimInnen verloren, die vorher für sie gestimmt hatten. Aber auch die Sympathien der Ultrakonservativen hat sie verspielt, weil sie in der verfassunggebenden Versammlung mit zwei säkularen Parteien koaliert.

Immer noch keine Verfassung

Dass die Ennahda gravierende Fehler gemacht hat, stellen selbst jene nicht infrage, die an den Pro-Ennahda-Demonstrationen mitlaufen, die in diesen Tagen ebenfalls stattfinden. Abgesehen vom Unvermögen, extremistische Gewalt und soziale Missstände einzudämmen, hat die Partei schlicht ihren institutionellen Auftrag nicht erfüllt: Nachdem die Ennahda die Wahlen für die Übergangsregierung deutlich für sich entscheiden konnte, versprach der Verfassungsrat, eine neue Verfassung auszuarbeiten und Wahlen einzuleiten – innert Jahresfrist. Nun sind schon zwei Jahre verstrichen, und noch immer hat das Land keine neue Verfassung. Und ohne Verfassung gibt es keine Wahlen.

Zur Pattsituation hat aber auch die Opposition beigetragen. Nach der Revolution ist eine politische Partei nach der anderen entstanden, und Konsens ist nicht eben die Stärke der über zwanzig parlamentarischen Parteien. Jedes Komma des Verfassungsentwurfs wird so zum Streitpunkt. «Wie naiv wir doch waren», seufzt eine Abgeordnete der Opposition. «Nach der Revolution waren wir überzeugt, dass es ganz einfach würde, Tunesien aufzubauen. Die Menschen hielten zusammen. Sie wussten, sie hatten Geschichte geschrieben, und sie waren stolz darauf.»

Wahltermin als Farce

Unter dem Druck der Strasse konnte sich die Ennahda immerhin dazu durchringen, ein Datum für Neuwahlen festzulegen. Bereits am 17. Dezember sollen diese stattfinden, just am dritten Todestag von Mohamed Bouazizi, dem Gemüsehändler, der sich selbst verbrannte und die Revolution auslöste. Doch trotz dieses Zugeständnisses versammeln sich weiterhin jeden Abend Demonstrierende auf der Place de Bardo und fordern den sofortigen Rücktritt der Regierung. Warum? «Dieses Datum ist eine Farce», erklärt ein Jurist vor Ort. «Erstens fehlt der gesetzliche Rahmen für Wahlen, und zweitens fällt der 17. Dezember auf einen Dienstag. Es ist fast unmöglich, an einem Arbeitstag Wahlen durchzuführen.» Dass die DemonstrantInnen nicht gedankenlos schlucken, was man ihnen als Zugeständnis hinhält, ist ein gutes Zeichen: Die Bevölkerung will auf dem demokratischen Weg bleiben, auch wenn er steinig ist.

Während in Ägypten die Gewalt eskaliert, Libyen und der Jemen unter Stammesfehden leiden und ein Ende des Syrienkonflikts nicht absehbar ist, bleibt es in Tunesien relativ friedlich. Von der grössten Demonstration der letzten Wochen, an der über 100 000 RegierungskritikerInnen teilnahmen, liess sich selbst die Polizei nicht aus der Ruhe bringen. Es gebe keinen Grund zur Aufregung, sagte ihr Einsatzleiter. Die TunesierInnen bekriegen sich nicht. Sie wissen, sie sind die Kinder ein und derselben Nation. Sie streiten nur gerade darüber, wie sie ihr Land organisieren sollen.