Tunesien: Verzögern und drohen

Nr. 23 –

Ein nationaler Dialog soll in Tunesien den demokratischen Übergang voranbringen. Die mächtige IslamistInnenpartei Ennahda stellt sich quer.

Lange hatten die TunesierInnen darauf gewartet: Vergangenen Samstag gab der Präsident der Verfassunggebenden Versammlung (VV) bekannt, dass nun der Entwurf für eine neue Verfassung vorliege. Mit seiner Ankündigung löste Mustafa Ben Jaafar von der sozialdemokratischen Regierungspartei Ettakatol jedoch keine Freudenstürme aus. Denn der präsentierte Verfassungsentwurf entspricht nicht dem, was zuvor in der Versammlung beraten worden war, und er blendet auch alle Vorschläge aus, die ein breit abgestütztes Gremium im Rahmen eines nationalen Dialogs formuliert hatte.

Mongi Rahoui, Abgeordneter der Partei Demokratische Patrioten, spricht gar von einem «Staatsstreich». Die zuständige Kommission der VV hat sich inzwischen geweigert, den Entwurf zur weiteren Prüfung entgegenzunehmen. Der Präsident der Kommission, Amor Chetoui von der säkularen Regierungspartei Kongress für die Republik (CPR), beschuldigt die islamistische Nahda-Partei, die Macht für sich alleine zu beanspruchen. Noch ist offen, wie der Streit weitergeht.

Ennahdas Machtpoker

Nach dem Sturz des früheren Diktators Zine al-Abidine Ben Ali im Januar 2011 war im Oktober desselben Jahres die VV gewählt worden, die derzeit auch die Funktion eines nationalen Parlaments ausübt. Seither bilden die CPR, die Ettakatol und Ennahda eine Übergangsregierung, wobei Ennahda mit 89 von 217 Sitzen in der VV die mit Abstand stärkste Kraft darstellt und diese auch immer wieder einsetzt. So hatte sich Ende 2012 Ennahda lange geweigert, an einem nationalen Dialog teilzunehmen, der vom tunesischen Gewerkschaftsbund UGTT initiiert worden war.

Ausgangspunkt dieses Dialogs war «die politische Krise», wie Hamma Hammami, Sprecher der Volksfront – eines linken Parteienbündnisses –, erklärt: «Ein Jahr nach dem Wahlsieg von Ennahda war im Oktober 2012 die neue Verfassung noch nicht wie vorgesehen eingeführt, es war keine unabhängige Wahlkommission geschaffen und die Polizei nicht reformiert worden, während sich die wirtschaftliche und soziale Lage verschlechterte.» Die Situation spitzte sich Ende 2012 weiter zu: So griffen Schläger der von Ennahda protegierten Ligen zur Verteidigung der Revolution Anfang Dezember den Sitz des UGTT in Tunis an. Und im Februar 2013 wurde Chokri Belaïd ermordet – wie Hammami ein Sprecher der Volksfront –, was zu weitreichenden Protesten führte (siehe WOZ Nr. 7/13). Erst jetzt sah sich Ennahda genötigt, beim nationalen Dialog mitzutun.

Angst vor Neuwahlen

An 16. Mai kam es zu einem Kongress des nationalen Dialogs, an dem auch der UnternehmerInnenverband teilnahm. Dort einigte man sich darauf, dass sich der Staatspräsident und der Premierminister künftig die Exekutivmacht teilen sollen. Zudem müsse etwa das Streikrecht verfassungsmässig garantiert werden. Angenommen wurde auch der Vorschlag der Volksfront, die Wahlen spätestens sechs Monate nach der Schaffung einer unabhängigen Wahlkommission abzuhalten. Im Schlusscommuniqué forderte der Kongress zudem Massnahmen gegen die steigenden Lebenshaltungskosten und die Arbeitslosigkeit. Auf die Gleichstellung von Frau und Mann hatte sich der Kongress schon zuvor geeinigt. Zurzeit berät ein Ausschuss noch über ungelöste Fragen, wie etwa die Staatsform. Ennahda will den Islam als Staatsreligion, während die nicht religiösen Kräfte am säkularen Charakter des Staats ausdrücklich festhalten wollen.

Damit jedoch überhaupt Wahlen abgehalten werden könnten, müsse zuerst die Gewalt gestoppt werden, sagte Hammami. «Deswegen ist es wichtig, die Ermordung Belaïds aufzuklären.» Denn es gab inzwischen auch mehrere Morddrohungen gegen AktivistInnen. Ennahda akzeptierte im Mai die Forderung, die Imame sollten sich aus der Politik heraushalten, nachdem zuvor in Moscheen immer wieder zu Gewalt aufgerufen worden war. Doch die Ligen zur Verteidigung der Revolution will Ennahda nicht auflösen.

Für die Volksfront müssten als Resultat des nationalen Dialogs neben politischen auch wirtschaftliche und soziale Massnahmen ergriffen werden. So fordert das Bündnis, dass die Übergangsregierung keine strategischen Abkommen zur Verschuldung des Landes, für Privatisierungen oder zum Landverkauf schliesst. Mit gutem Grund: Die Auslandsschuld hat sich innert Jahresfrist laut Hammami bereits um 40 Prozent auf 136 Prozent des BIPs erhöht. Und ein neues Investitionsgesetz ermöglicht es Investoren aus Katar und Saudi-Arabien inzwischen, im grossen Stil Land zu erwerben.

Doch Ennahda scheint nicht daran zu denken, ihre guten Beziehungen zu den Golfstaaten zu opfern. Viele werfen der Partei vor, sie tue alles für ihren Machterhalt. Deshalb verzögere sie auch die Verabschiedung einer neuen Verfassung. Denn die danach folgenden Neuwahlen würde die Partei kaum mehr gewinnen.