Protestbewegung in den Niederlanden: Unter falscher Flagge

Nr. 49 –

Bauern, Alternative, Asylgegnerinnen, Spirituelle und Identitäre: Sie alle protestieren in den Niederlanden mit der umgedrehten Landesfahne. Genügt das Symbol, um eine Bewegung zu schmieden?

die Bauern Gerrit van den Heuvel und Gert Jan Brouwer stehen vor einem grossen Traktor
Die Regierung produziere «Krise um Krise», finden die Bauern Gerrit van den Heuvel und Gert Jan Brouwer. Mit den Rechtspopulisten und Spinnern, die sich heute unter der «Bauernflagge» versammeln, wollen sie aber nichts zu tun haben.

Im Juni 2022 wird das Dorf Stroe zum Zentrum der Niederlande. Nicht wegen seiner geografischen Lage mitten im Land, genau im Dreieck zwischen den Städten Arnheim, Apeldoorn und Amersfoort. Sondern weil von diesem Ort mit 1500 Menschen eine Protestwelle ausgeht, die sich in alle Richtungen ausdehnt und bald das ganze Land erfasst. Sie trägt die Farben der umgedrehten Fahne: Blau über Weiss und Rot. In den nächsten Wochen wird das Symbol überall auftauchen: an Laternenpfählen und Brücken, entlang Autobahnen und Provinzstrassen, flatternd an Hauseingängen, aus Fenstern hängend.

An einem warmen Frühsommertag sind Zehntausende Bäuer:innen mit ihren Traktoren zu einer Kundgebung nach Stroe gekommen. Es geht um den Plan der Regierung, den Stickstoffausstoss bis 2030 zu halbieren. Stickstoffoxide und Ammoniak, zu denen sich Stickstoff in der Luft verbindet, sind Vorläufersubstanzen von Feinstaub und Ozon und schädigen Ökosysteme. Im Meer bewirkt zu viel Stickstoff Sauerstoffmangel; sogenannte Todeszonen entstehen, in denen kaum noch etwas lebt.

«Die Leute sehen: ‹Ich mache nichts verkehrt, ich arbeite hart, aber trotzdem reicht es hinten und vorne nicht›», erklärt der Kolumnist Zihni Özdil die Stimmung im Land.

In Europa stossen die Niederlande pro Quadratkilometer am meisten Stickstoff aus. Die intensive Landwirtschaft ist dafür zwar nicht allein verantwortlich, trägt aber am meisten dazu bei. Pläne, den Viehbestand zu halbieren und Betriebe mit Prämien zum Aufhören zu bewegen, gibt es schon lang – wie auch Proteste Betroffener, die Enteignungen fürchten. Die landesweite Kundgebung gilt als letzte Warnung. Findet sie in Den Haag kein Gehör, sollen andere Mittel folgen.

Genau so kommt es. Die Proteste breiten sich aus: Traktoren blockieren Strassen, entlang der Autobahnen brennen Heuballen. Bäuer:innen demonstrieren vor dem Parlament in Den Haag. Zweimal belagert eine wütende Menge abends das Haus der Umweltministerin. Im ganzen Land tauchen die umgedrehte Fahne, inzwischen bekannt als «boerenvlag» (Bauernflagge), und die Losung «steun voor de boer» (Unterstützung für den Bauern) auf. In Umfragen erklären bis zu 45 Prozent der Teilnehmenden, völlig hinter den Protesten zu stehen. Der Rest ist etwa zur Hälfte dagegen oder unentschieden.

Dass dieses Thema die ganze Bevölkerung umtreibt, liegt nicht nur daran, dass Autobahnblockaden in einem dicht bevölkerten Land von Pendler:innen sehr effektiv sind. Die Bäuer:innen haben auch einen Nerv getroffen, denn die etablierte Politik steckt in einer schweren Krise (vgl. «Tiefe Kluft im flachen Land» im Anschluss an diesen Text). Weit verbreitet ist die Auffassung, «Den Haag» interessiere sich nicht für die Nöte der Bevölkerung und zwinge ihr bloss realitätsferne Regeln auf. Es ist darum nicht unbedingt das komplexe Stickstoffproblem, das Menschen eine umgedrehte Fahne aufhängen lässt.

«Blau-Weiss-Rot, Schiff in Not»

Mitten im Hochsommer zeigt sich dies in Albergen, einem Dorf nahe der deutschen Grenze, rund neunzig Kilometer östlich von Stroe. Dem niederländischen Asylsystem gehen seit längerem die Unterkünfte aus, und die Aufrufe an Kommunen, solche bereitzustellen, werden unzureichend und oft widerwillig beantwortet. Also beschliesst die Regierung in Den Haag, die Unterbringung künftig unilateral zu organisieren – ohne die betreffenden Kommunen zu konsultieren.

Zum ersten Mal soll dies nun im 3000-Seelen-Dorf Albergen geschehen, wo die Regierung ein Hotel ersteht, um darin 300 Personen unterzubringen. Daraufhin demonstrieren dort an mehreren Abenden Dorfbewohner:innen. Schliesslich ziehen an einem Augustsonntag etwa 500 protestierende Menschen durch Albergen, in bunter Sommerkleidung, manche mit Kinderwagen. Es sieht aus wie eine fröhliche Landpartie, nur dass viele Hände eine blau-weiss-rote Fahne halten. Oder ist es eine Miliz auf Sommerausflug?

«Wir sind keine Rassist:innen. Alle sind hier willkommen!», ist das Erste, was Marco Geelen und seine Freunde sagen. An einem warmen Samstagabend einen Monat später sitzen die vier Männer mittleren Alters an einem Holztisch vor dem Biercafé Morshuis. Abgesehen von Geelen wollen sie anonym bleiben. Sie sprechen mit dem schweren Akzent der Grenzregion und lachen viel und polternd. Wer von ihnen nicht im Urlaub war, lief bei der Demo mit. «In so einem Dorf ist man eine Einheit. Alle sind miteinander verbunden», erklärt Geelen und betont: «Wir sind nicht gegen Asylbewerber:innen. Es geht darum, dass uns das aufgezwungen wird. Man kann doch erst fragen, was wir davon halten!»

zum «Tag der menschlichen Verbindung» demonstrieren Anfang November in Amsterdam rund tausend Leute
Gelbwesten, Impfgegnerinnen, Rechtsextreme: Zum «Tag der menschlichen Verbindung» demonstrieren Anfang November in Amsterdam rund tausend Leute für so manches und gegen noch mehr.
Demonstrant mit oranger Weste mit vielen Aufsteckern und silbrigem Helm
Sicher unter dem Aluhelm: «Wappies» (Spinner) werden Verschwörungsgläubige in den Niederlanden genannt.

Wofür steht diese Fahne, mit der an jenem Tag so viele Menschen durchs Dorf zogen? Und was ist die Verbindung zwischen Stickstoff- und Asylprotesten? «Gute Frage», findet einer der Männer und beginnt, die Sache aufzudröseln. Er erwähnt die Tradition aus der Seefahrt: Niederländische Schiffe signalisierten einst mit umgedrehten Landesfarben, dass sie Hilfe brauchten, etwa weil ein Besatzungsmitglied über Bord gegangen war. «Blau-Weiss-Rot, Schiff in Not», so lautete die Devise schon vor Jahrhunderten.

Ein anderer unterbricht ihn: Die Farben stünden für die Klassen der Gesellschaft – Rot für den Adel, Weiss für die Mittelschicht, Blau für die Arbeiter. «Normalerweise war immer der Adel oben.» Einig sind sie sich, dass heute das ganze Land in einer Notlage sei: Stickstoff, Asylsuchende, die eigentlich aus sicheren Ländern kämen, unbezahlbare Energiepreise. Zwei von ihnen wählten 2021 noch die rechtsliberale Partei VVD von Premier Mark Rutte und sind enttäuscht. Geelen wählte den Rechtspopulisten Geert Wilders – «auch wenn manche seiner Auffassungen seltsam sind».

Wer die Konjunktur der umgedrehten Fahne nachvollziehen will, findet auf der Website boerenvlag.nl einige Hinweise. Die meisten hier zum Kauf angebotenen Produkte – Flaggen, Transparente oder Aufkleber – enthalten Symbole der Agrarproteste: Traktoren, gekreuzte Mistgabeln, die populären roten «Bäuer:innentaschentücher». Doch es finden sich auch andere Parolen, jeweils auf blau-weiss-rotem Grund: «Bürger im Widerstand! », «Niederlande im Widerstand, weg mit diesem Kabinett!», «WEF = Wahnsinn!», «No Great Reset!», «Nexit!» oder das von einer Antilockdownkampagne bekannte «#ichmachnichtmehrmit».

«Wir leben in unruhigen Zeiten», heisst es in einer Erklärung. «Wir bekommen viele Anfragen nach Flaggen, die nicht direkt bauernbezogen sind. Wir wollen allen die Möglichkeit bieten, ihre Stimme hören zu lassen.» Die Betreiber:innen der Site beschreiben sich als «keine Virologen oder Aktivistinnen, und auch die extreme Rechte spricht uns nicht an». Stolz sei man auf die Niederlande, ihre Bäuerinnen und Bürger, weniger auf «diverse Politiker:innen und ihren Hang zum Einschränken von Freiheiten».

Der WOZ gelingt es nach einigen Versuchen, per E-Mail Kontakt mit dem Verantwortlichen aufzunehmen: Sikke, der seinen Nachnamen lieber für sich behält. «Die umgekehrte Flagge wird in der Tat auch bei anderen Protesten benutzt, das hast du auf unserer Website sicher schon gesehen ;)», schreibt er. «Aber ich denke, dass die meisten Leute sich darüber einig sind, dass ‹Blau-Weiss-Rot, Land in Not› in den letzten Jahren auf vielen Gebieten zutreffend war.»

Die Frage, ob boerenvlag.nl Merchandising, Dienstleistung oder Aktivismus ist, beantwortet sich nicht so leicht: Eigentlich, betont Sikke, betreibe er mit Unterstützung seiner Frau einfach einen Webshop, «aber solange es angemessen und friedlich geschieht, stehe ich sicherlich hinter ‹Aktivismus›». Mehrere Hundert Personen habe man bereits mit blau-weiss-roten Produkten «erfreut». Beruflich mache er das Ganze aber nicht. «Lass uns sagen, eher für den guten Zweck.»

Bauern ohne Sympathien für «Wappies»

Das diffuse Bild, das sich hier zeigt, geht bis in die Ursprungstage der umgedrehten Fahne zurück. Niederländische Medien bemerken im Sommer häufig, dass auch die erste Welle von Agrarprotesten gegen Stickstoffregeln im Herbst 2019 blau-weiss-rote Fahnen trug. Erstmals waren diese Ende 2018 aufgetaucht, als die Gelbwestenbewegung über Belgien auch in die Niederlande gelangte. Manchen ging es dabei um soziale Anliegen, sinkende Kaufkraft, Benzinpreise. Doch auch Personen aus nationalistischen Kreisen traf man an, die Idee einer Verschwörung der Eliten oder den pauschalen Fake-News-Vorwurf gegenüber Medien.

Auch während der langen, äusserst umstrittenen Lockdowns diente die Fahne als Protestsymbol. Die Melange an den dortigen Demonstrationen glich jener in der Schweiz oder Deutschland: Von Althippies bis Alt-Right war alles vertreten, dazwischen tummelten sich Impfkritikerinnen, Esoteriker und zunehmend jene, die den «Great Reset» für einen teuflischen Masterplan des World Economic Forum halten, mit dem dessen Chef Klaus Schwab und seine sogenannten Globalist:innen nach der totalen Kontrolle griffen. Linke Gruppierungen blieben den Protesten der Gelbwesten wie auch der Lockdowngegner:innen fern, Einzelne aus alternativen, etwa ökologischen Milieus tauchten vor allem bei Letzteren durchaus auf.

Das identitäre Forum voor Democratie ist bis heute das politische Scharnier zwischen diesen Akteur:innen. Parallel zu dieser rechtsextremen Partei, die sich inzwischen in offener Opposition zum «System», vermeintlichen «Eliten» und «Mainstreammedien» befindet, durchliefen auch die Antiregierungsproteste eine Radikalisierung. Im November warnte ein Bericht der niederländischen Behörde zur Terrorismusbekämpfung vor der Kombination von Extremismus und Verschwörungstheorien, die «terroristische Handlungen» hervorbringen könne.

Der Bauer Gert Jan Brouwer, auf dessen Land in Stroe die Grossdemonstration im Juni stattfand, ist darum vorsichtig, was politische Allianzen betrifft. Natürlich wehrt er sich gegen den Stickstoffplan aus Den Haag, und auch sonst findet er, dass die Regierung «Krise um Krise produziert» und zu viel nach der Pfeife Brüssels tanze, aber von Protesten wie jenem gegen das Asylhotel hält er sich fern. «Wir wollen nichts mit diesen Organisationen zu tun haben», versichert der Milchviehhalter.

«Und auch nicht mit diesen Wappies!», ergänzt sein Kollege Gerrit van den Heuvel, der eine Hühnerfarm betreibt. «Wappies», übersetzt etwa «Spinner», ist ein abwertender, sehr verbreiteter Name für Kritiker:innen der Coronabeschränkungen, die häufig Komplotttheorien anhängen. Die Bauern, beide in den Fünfzigern, kennen sich seit der Grundschule. Dass sie nun zusammen demonstrieren, obwohl sie, so van den Heuvel, «eine Scheissabneigung dagegen haben», liege daran, dass die Regierung sich nicht um das eigene Volk kümmere. Wen er mit «eigenes Volk» meint? «Alle, die hier wohnen!»

Trotz allem haben die Bäuer:innen in Stroe im Oktober begonnen, in Zusammenarbeit mit der Kommune die Protestfahnen aus dem öffentlichen Raum zu entfernen. «Im Rathaus sagen sie, manche Menschen störten sich an der umgedrehten Flagge. Also werden wir andere aufhängen, mit Bauerntaschentüchern darauf.» Privathäuser seien davon freilich nicht betroffen, versichert Brouwer. Wie an vielen anderen Anwesen hängt auch an seiner Einfahrt ein Banner verkehrt rum. Kurz vor der Autobahnausfahrt findet sich noch immer die mehrere Hundert Meter lange blau-weiss-rote Wand, die er und seine Mitstreiter:innen im Sommer dort errichteten.

Schild mit Aufschrift «Scheiss auf diese Politik» am Strassenrand
«Scheiss auf diese Politik»: Parolen auf Blau, Weiss, Rot sind im ganzen Land entlang der Strassen zu sehen.

Unabhängig davon ist die umgedrehte Fahne längst zum Symbol aller geworden, die aus verschiedensten Blickwinkeln oft fundamentale Kritik an «Den Haag» üben. Nicht immer ist dies nur populistischem Furor geschuldet. Auch die soziale Verelendung arbeitender Armer oder unbezahlbare Energiepreise spielen eine Rolle. Einer der wesentlichen Gründe für das miserable Image der Regierung ist die sogenannte Kindergeldaffäre: Das Finanzamt trieb jahrelang mit unberechtigten Betrugsvorwürfen und horrenden Rückzahlungsforderungen Zehntausende Leistungsempfänger:innen in den Ruin, viele von ihnen Migrant:innen.

Der Kolumnist Zihni Özdil, einst Parlamentsabgeordneter der Partei GroenLinks, beschreibt den breiteren politischen Kontext dieses Vertrauensverlusts so: «In keinem anderen EU-Land hat der Neoliberalismus so hart zugeschlagen wie in den Niederlanden. Sogar die Krankenkassen wurden privatisiert, so weit ging nicht einmal Margaret Thatcher in Grossbritannien. Heutzutage lässt sich am Zustand des Gebisses wieder ablesen, ob jemand arm ist.»

Während Özdil den niederländischen Neoliberalismus als Ursprung der Krise verortet, macht er zugleich die Linke für die heutigen Entwicklungen verantwortlich. «Die Leute sehen: ‹Ich mache nichts verkehrt, ich arbeite hart, aber trotzdem reicht es hinten und vorne nicht.› Wenn dann den Gewerkschaften dazu nichts einfällt und die Linke keine Antworten hat, nehmen sie eben die Antworten, die von rechts oder den Wappies kommen. Nirgendwo anders ist es denkbar, dass Sozialdemokraten und Grüne einem Kreditsystem für Student:innen oder Marktelementen im Gesundheitssystem zustimmen.»

«Logik und spirituelle Kräfte» statt Politik

In welche Richtung sich der Protest überwiegend artikuliert, zeigt sich zuverlässig und sehr regelmässig auf sozialen Medien. An einem willkürlichen Tag Mitte Oktober etwa umfasst die niederländische Trendingliste auf Twitter die Schlagwörter: «Kaag» – gemeint ist Finanz- und Vizepremierministerin Sigrid Kaag von der progressiv-liberalen Regierungspartei Democraten 66, die vielen Kritiker:innen als Inbegriff einer abgehobenen, urbanen Elite gilt –, «Energierechnung», «Neuwahlen», «Asylstopp».

Ähnliche Rhetorik findet sich rund um eine Demonstration Anfang November auf dem Dam in Amsterdam. Angekündigt als «Tag der menschlichen Verbindung» unter dem Motto «No War Just Peace», wird bereits zur Mobilisierung ein bunter Cocktail gereicht: «Stoppt den Krieg!», «Stoppt das Kabinett Rutte!», «Stoppt die hohe Energierechnung: Bezahlt nicht mehr!», «Stoppt das permanente Coronagesetz!», «Stoppt die europäische digitale Identität!», «Stoppt die Enteignung der Bauern!». Aufgerufen hat das Bündnis «Samen voor NL» (Gemeinsam für die Niederlande), dem etwa die Partei Forum voor Democratie, die niederländischen Gelbwesten, mehrere Initiativen von Impfgegner:innen und eine Facebook-Gruppe namens «Nexit (Nederland Exit EU)» angehören.

Im Vorfeld geht es ziemlich hoch her: Dem als Redner angekündigten britischen Verschwörungsguru David Icke, der behauptet, die Welt werde von reptiloiden Illuminaten regiert, wird die Einreise untersagt, daraufhin wird die Veranstaltung abgeblasen, bevor sich schliesslich doch rund tausend Personen im strömenden Regen versammeln. Wenig verwunderlich, dass die von den Protesten gegen den Lockdown bekannten gelben Regenschirme sehr präsent sind, auf denen in roten Lettern «Liebe» oder «Frieden» steht. Zwischen Slogans wie «Born to be free», «Nexit» oder «Media = Virus» umarmen sich Bekannte herzlich und demonstrativ. Nicht wenige sehen aus, als kämen sie gerade aus einem alternativen Kulturzentrum.

Kaum ein Symbol findet sich freilich öfter als die umgedrehten Landesfarben – etwa als selbstgestrickte Mützen auf dem Kopf von Jeanet Koning und ihren Begleiter:innen, die auch häufig zusammen auf Autobahnbrücken demonstrieren. Die eigentlich sanften Gesichtszüge der 71-jährigen pensionierten Akupunkturistin verhärten sich, als sie über das World Economic Forum zu schimpfen beginnt, mit dessen Machenschaften sie sich seit der Covid-Krise beschäftige und das die Regierungen an der Leine halte. Politisch sei sie eigentlich nicht, eher setze sie auf «Logik und spirituelle Kräfte». Gibt es dennoch eine Partei, von der Jeanet Koning sich vertreten fühlt? «Forum voor Democratie.»

der ehemalige Bobprofi Arend Glas an einer Demonstration
«Wenn du nicht mit dem übereinstimmst, was die linken Idioten denken, darfst du keine eigene Meinung haben»: Der ehemalige Bobprofi Arend Glas tut seine trotzdem kund.
Jeanet Koning und ihre Kolleginnen mit Mützen in den Farben der Boerenvlag
Jeanet Koning und ihre Kolleginnen haben sich Mützen in den Farben der Boerenvlag gestrickt. Das WEF halte die Regierung an der Leine, glaubt sie. Politisch sei sie aber nicht.

Eine der grössten blau-weiss-roten Fahnen hält Arend Glas – zusammen mit derjenigen seiner Herkunftsprovinz Friesland. «Dies ist eine Protestfahne. Sie ist umgedreht, weil das Land in Not ist», sagt er. «Die Bäuer:innen haben damit begonnen, die werden kaputtgemacht, aber die Fahne steht für viel mehr: Mit uns wird ein Spiel gespielt, unsere Freiheit wird uns genommen, Impfungen sind obligatorisch, und wenn du nicht mit dem übereinstimmst, was die linken Idioten denken, darfst du keine eigene Meinung haben.»

Glas, in den nuller Jahren zweifacher Olympionike des niederländischen Bobteams, macht aus seiner Gesinnung keinen Hehl. «Ich bin Nationalist, absolut!» Die Kappe mit dem Runenlogo der völkischen Organisation Voorpost allerdings trage er nur, «weil ich sie schön finde». Was Arend Glas auch gefällt, ist die Vielfalt an Menschen, die an diesem Tag dem Regen in der Hauptstadt trotzt: «Hier sind auch Leute von der Sozialistischen Partei und Hausbesetzer. Es sind alles Leute, die die Lügen der Mainstreammedien durchschauen und in Freiheit leben wollen.» Glas ist sich sicher: «Hier stehen Menschen zusammen, von denen du das vor zehn Jahren nicht gedacht hättest.»

Vertrauenskrise niederländischer Politik : Tiefe Kluft im flachen Land

Die «Kluft zwischen den Bürger:innen und Den Haag» ist in den Niederlanden geradezu sprichwörtlich. Drei Generationen von Rechtspopulist:innen haben seit der Jahrhundertwende darauf ihre Karrieren gebaut – von Pim Fortuyn über Rita Verdonk und Geert Wilders (Partij voor de Vrijheid) bis zu Thierry Baudet (Forum voor Democratie). Von der starken Antieuropaströmung zeugen die Ablehnungen von EU-Grundgesetz (2005, 61,5 Prozent Nein) und Ukraine-Assoziationsvertrag (2016, 61 Prozent Nein).

Im Lauf der Coronapandemie verstärkte sich die Vertrauenskrise. Im Herbst 2021 gaben 61 Prozent der Teilnehmenden in einer vom Marktforschungsinstitut Ipsos durchgeführten Umfrage an, wenig bis sehr wenig Vertrauen in die Landespolitik zu haben. Dass die Mitte-rechts-Koalition Anfang 2021 nach einem Kindergeldskandal (vgl. Haupttext oben) zurücktrat, mangels Alternativen nach den folgenden Wahlen aber erneut eine Regierung bildete, beschädigte das Vertrauen zusätzlich.

Ein messbarer Tiefpunkt wurde im vergangenen September erreicht: Gemäss einer Umfrage des TV-Magazins «Een Vandaag» wird die aktuelle Mitte-rechts-Regierung auf einer Skala von 1 bis 10 mit 3,3 bewertet – der schlechteste jemals erreichte Wert. 65 Prozent der Befragten, darunter selbst zahlreiche Wähler:innen der Koalitionsparteien, forderten schnelle Neuwahlen. Laut einer anderen, 2019 durchgeführten Untersuchung glaubten 17 Prozent der Befragten, die Regierung kontrolliere die Medien. Die Hälfte ging von systematischem Vertuschen illegaler Aktivitäten von Politiker:innen aus. Im Elektorat rechtspopulistischer Parteien glaubten dies mehr als 80 Prozent.