Pop: Im Baumhaus, der Wind in den Pfeifen

Nr. 50 –

Jedes Vinyl eine Überraschung: Die Musik, die das Kleinlabel Blaublau im Monatsabo über ein gutes Jahr veröffentlicht, klingt faszinierend frei.

Schallplatten von Blau Blau Records auf einem Kaffee-Tischlein
Die Musik wächst wilder und weiter, wenn sie nicht von ökonomischen Faktoren eingeschränkt wird. Alben aus der besprochenen Serie. Foto: Ursula Häne

Wovon reden wir, wenn wir von Liebe reden? Meistens über ganz andere Dinge. Wie die zwei befreundeten Paare in einer der bekanntesten Kurzgeschichten von Raymond Carver. Sie trinken reichlich Gin und sprechen über Liebe – oder das, was sie dafür halten. Doch worüber eigentlich geredet wird, das ist Gewalt, Verzweiflung und Hass. Am Ende des Abends sitzen die Freund:innen schweigend beisammen, es sind keine Worte mehr übrig. Sie hören nur ihre Herzen in der Dunkelheit schlagen.

Um dieses Gespräch und die Stille danach dreht sich Carvers Geschichte «What We Talk About When We Talk About Love». Bei deren Titel bedient sich nun eine Albumserie des Schweizer Labels Blaublau Records, das sich damit den lang gehegten Traum einer Reihe mit viel Narrenfreiheit erfüllt. Es scheint ein simples Vorhaben ohne doppelten Boden; dessen logistischer Aufwand ist angesichts der überlasteten Plattenpresswerke jedoch nur zu erahnen: Über gut ein Jahr hinweg lässt Blaublau Alben in Kleinstauflage auf Vinyl pressen, die immer am Dreizehnten jedes Monats erscheinen. Die Reihe war auch zum dreizehnmal (Vor-)Freuen als Abo erhältlich. Ein musikalisches Kaleidoskop, das wütende, sanfte, laute und leise Stimmen vereint. Zwölf Teile sind bereits erschienen. Der letzte Teil fehlt noch, er folgt im Januar.

Wärmer als Wave

Den Auftakt machte vor fast einem Jahr das Duo Chien Mon Ami (Benjamin Taillard und Naomi Mabanda) aus La Chaux-de-Fonds. Es könnte ein eher kühles Album sein: Synthesizer, Drum Machine und monotoner Gesang auf Französisch im Duett, die Zutaten für viele Spielarten des Wave. Wäre da nicht plötzlich ein Cello, gespielt von Mabanda, das wärmt und als menschliche Stimme fungiert und so die Duette zu Terzetten macht; es sagt, dass alles gut wird. Diese vermeintlichen Gegensätze vereinen Chien Mon Ami in acht Tracks oft sogar sehr tanzbar.

Die Serie ist ein Wagnis, die Möglichkeit des Scheiterns öffnet Raum zum Experimentieren.

Als erste Veröffentlichung stehen diese exemplarisch für die Vielfältigkeit der musikalischen Landschaft, in der sich die Reihe aufspannt. Würde man davon eine Landkarte zeichnen, wäre ganz hinten in einem verwunschenen Tal die Musik von Junge Eko zu finden, auch bekannt als Catia Lanfranchi und Sängerin von Kush K. Es ist die traurigste und gleichzeitig versöhnlichste Erzählung von Liebe in der Serie, und sie wurde tatsächlich ziemlich abgeschieden in Poschiavo aufgenommen. Als Hörer:innen sitzen wir eine halbe Stunde lang direkt neben Lanfranchi, auf einem Dachboden vielleicht oder in einem Baumhaus, lauschen ihrer Stimme und dem Wind in Orgelpfeifen, einer Geschichte vom Loslassen und Wiedersehen, zaghaft optimistisch. Man kann sich dem Sog der Intimität dieser Lo-Fi-Ambient-Songs kaum entziehen, bis einen der Wachtraum wieder ausspuckt.

Die zweite Nelly

Jeder einzelne Beitrag erzeugt Nachhall. Sei es das zweite Album von Omni Selassi, eine der zurzeit aufregendsten Bands der Schweiz, oder die Platte von Carebender, einem A-cappella-Projekt um Zooey Agro, wo im Chor geschrien, gesungen und geflüstert, wo die Faust nicht im Sack gemacht, sondern der Wut Luft verschafft wird. Das ist genauso Liebe wie der treibende, krautige und streckenweise überraschend verspielte Tribut an mindestens zwei Nellys (Furtado, die Popsängerin, und Diener, die erste Flugbegleiterin Europas bei der Swissair), den die Gruppe Nelly Schweiz geschaffen hat.

Die Serie ist ein Wagnis. Es sei «ein Versuch auch darüber, wovon wir sprechen, wenn wir über Musik sprechen», erklärt das Label. Und im Versuchen liegt auch immer die Möglichkeit des Scheiterns. Doch es ist genau diese Möglichkeit, die Raum zum Experimentieren öffnet. Mit der bedingungslosen Carte blanche, die Blaublau verschiedenen Formationen der Schweizer Jazz-, Indie- und Popszene gab, hat es auch dreizehnmal sein Vertrauen ausgesprochen. Und weil die Reihe als Abonnement erhältlich ist, fliesst das Vertrauen auch zurück. Das ermöglicht eine musikalische Freiheit, die sich in jeder einzelnen Platte zeigt. Denn Musik wächst anders, wilder, weiter, wenn sie durch ökonomische Faktoren weniger be- und eingeschränkt ist.

Weil sie nicht im luftleeren Raum entsteht, sondern immer auch Ausdruck der Bedingungen ist, unter denen sie geschaffen wird. «What We Talk About When We Talk About Love» spricht von kreativen Prozessen, davon, wie diese ermöglicht werden, und erzählt von einem Gegenentwurf zur Musikindustrie. Darauf weist das Labelkollektiv hin, wenn es Liebe, frei nach der feministischen Literaturwissenschaftlerin bell hooks, als Handlung, als aktives Verb versteht – lieben, vertrauen, verbinden, gestalten, geben, schenken. Auch wenn die einzelnen Alben eigenständig wirken und je für sich stehen, sind sie damit Teil eines grossen Ganzen, sichtbar und unsichtbar miteinander verbunden. Sie erzählen so eine weniger düstere Geschichte als Raymond Carver.

Verschiedene Künstler:innen: «What We Talk About When We Talk About Love». BlauBlau Records. 2022/23.