Abtreibungsrecht in Italien: Der Wettlauf gegen die Zeit

Nr. 51 –

Weil sich 65 Prozent der Gynäkolog:innen weigern, Schwangerschaften abzubrechen, ist in Italien das Recht auf Abtreibung in Gefahr. Unter Giorgia Meloni dürfte dies nicht besser werden.

Demonstration am 26. November in Rom zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen
«Selbstbestimmung ist unser einziges Gesetz»: Demonstration am 26. November in Rom zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen.

«Das Gesetz Nr. 194 bleibt», verkündete Giorgia Meloni im Sommer 2022 – und meinte damit das italienische Abtreibungsgesetz. Meloni, seit Oktober Italiens Ministerpräsidentin, steht als Katholikin und bekennende Abtreibungsgegnerin für eine äusserst reaktionäre Familienpolitik. Ihr vermeintliches Versprechen, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch nicht abzuschaffen, kommt reiner Wahlkampfpropaganda gleich. Denn in Italien ist der Zugang zu einem Abort bereits so voller Hürden, dass eine Änderung der Gesetzeslage gar nicht nötig ist. Ungewollt schwangere Frauen und genderqueere Menschen durchleben schon jetzt eine Odyssee, bei der ihre psychische und körperliche Gesundheit, manchmal sogar ihr Leben auf dem Spiel steht.

«Hinter den hohen Verweigerungs­zahlen steht die katholische Kirche.»
Lisa Canitano, ­pensionierte Gynäkologin

Alessia Sacchetti nahm ihren eigenen Leidensweg als Ausgangspunkt für ihren dieses Jahr erschienenen Debütroman «Prima che sia tardi». Die Autorin erzählt darin die schmerzlichen Erfahrungen eines jungen Mailänder Ehepaars, das sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden hat. Den Titel «Bevor es (zu) spät ist» wählte Sacchetti nicht ohne Grund: «Es ist für die beiden Protagonist:innen ein echter Wettlauf gegen die Zeit», sagt sie, «der Zeitfaktor ist reine Folter für dieses Paar.» Sie spricht von Frustration, Druck und Ohnmacht, von Ungerechtigkeit, Gewalt und Trauma.

Einer der Gründe für die langen Wartefristen, einer der Stützpfeiler des «Systems, das es auf dich abgesehen hat», um mit den Worten Sacchettis zu sprechen, ist die hohe Anzahl der «Verweiger:innen». So nennt man in Italien Ärzt:innen, Hebammen und Pflegefachkräfte, die aus Gewissensgründen keine Abtreibungen durchführen oder sich nicht daran beteiligen. Diese Möglichkeit ist im Gesetz Nr. 194 von 1978 festgehalten – als Zugeständnis an die damals mitregierende Volkspartei Democrazia Cristiana.

Wochenlanges Warten in Mailand

Eine «Nichtverweiger:in» ist Marina Cortese. Die Gynäkologin stellt in ihrer Mailänder Praxis die für Abtreibungen obligatorischen Beratungsscheine aus und bestätigt den Wettlauf gegen die Zeit. Es fehle an Informationen über die Spitäler, die Aborte ausführten, hinzu kämen diverse medizinisch nicht notwendige Voruntersuchungen und nicht enden wollende Wartezeiten: «Wenn eine Frau für den Beratungsschein in der sechsten Schwangerschaftswoche zu mir kommt, kann es sein, dass die Abtreibung erst in der zehnten oder zwölften Woche vorgenommen wird. Oft bleiben Frauen vier oder fünf Wochen schwanger. Das ist psychologisch sehr belastend, denn meistens haben sie Symptome, Übelkeit und Schmerzen. Du spürst, wie sich dein Körper verändert, aber du willst es nicht.» Cortese sieht dahinter eine eindeutig «strafende Absicht». Wegen der langen Wartelisten werde zudem oft ein chirurgischer Eingriff nötig, kritisiert die Feministin, weil ein medikamentöser Abbruch nur bis zur neunten Schwangerschaftswoche erlaubt sei. «Dabei wäre dieser viel sicherer für die Frauen und weniger invasiv», so die Gynäkologin.

Die Zahl der Verweiger:innen ist in der Tat schwindelerregend hoch. Italienweit führen derzeit 65 Prozent der Gynäkolog:innen und 45 Prozent der Anästhesist:innen in öffentlichen Krankenhäusern keine Abtreibungen aus. Einige Regionen sind besonders stark betroffen: In Molise gibt es insgesamt nur noch zwei Frauenärzt:innen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, in Apulien weisen 8 der 35 Spitäler eine Verweigerungsrate von hundert Prozent auf. Zum Teil müssen Frauen deswegen für den Eingriff weite Strecken zurücklegen. Vor allem in den ländlicheren Gegenden in Süditalien unterstützen Aktivist:innen ungewollt Schwangere, indem sie sie mit dem Auto abholen und in eine andere Stadt oder gar Region fahren.

Das Ausmass des Phänomens bebildert die Rechercheplattform «Mai dati» anschaulich. Auf einer Karte des italienischen Stiefels sind die staatlichen Gesundheitseinrichtungen mit einem Grossteil an Verweiger:innen eingetragen.* Sie zeigt: In mindestens 54 Einrichtungen weigern sich mehr als achtzig Prozent der Angestellten in wenigstens einer Berufskategorie, Abtreibungen auszuführen. In mindestens 17 Einrichtungen sind es hundert Prozent.

Hinter der im Juni auch als Buch publizierten Recherche stehen die Informatikerin Sonia Montegiove und die Bioethikerin Chiara Lalli. Die beiden Journalistinnen wussten von vielen Frauen, die auf der Suche nach einem Spital für einen Schwangerschaftsabbruch kostbare Zeit verloren haben, erzählt Montegiove. Sie wollten die nötigen Informationen zugänglicher machen. Im Sommer 2021 schrieben sie alle staatlichen Krankenhäuser und Beratungsstellen Italiens an und erfragten den Anteil an Verweiger:innen. Die Antworten, die sie erhielten, waren auch für sie überraschend: «Wir hatten nicht erwartet, dass es Krankenhäuser mit hundert Prozent Verweiger:innen gibt.»

Das italienische Gesundheitsministerium veröffentlicht zwar einmal im Jahr Statistiken zum Gesetz Nr. 194. Doch weil die Daten nach Regionen gebündelt werden, ist der Bericht für eine gezielte Suche nach einem Spital unbrauchbar. «Eine Frau, die abtreiben will, ruft nicht bei der Region an. Dass in Umbrien etwa die Verweigerungsrate bei 63 Prozent liegt, ist für sie völlig irrelevant», kritisiert Montegiove. «Für die Frau ist wichtig zu wissen, dass zum Beispiel im Castiglione del Lago, einem Krankenhaus in Umbrien, hundert Prozent der Ärzt:innen Abbrüche verweigern.»

Die Schuld an der katastrophalen Lage liege aber nicht bei den einzelnen Ärzt:innen, meint Montegiove, sondern bei den Spitalleitungen und den Regionalregierungen, die das Recht auf Abtreibung in der Praxis nicht genügend gewährleisteten. Dennoch sei eine Gewissensverweigerung auf jeden Fall die bequemere Wahl: «Als Nichtverweiger:in macht man nichts anderes mehr. Man hat geringere Karrieremöglichkeiten und viel anstrengendere Dienstpläne. Denn wenn man der einzige Arzt ist, der eine bestimmte Leistung erbringt, ist klar, dass man keine Ferien nehmen kann und es sich nicht leisten kann, krank zu werden.» So entstehe ein Teufelskreis. «Wir haben diverse Gynäkolog:innen getroffen, die sagen: Ich habe es eine gewisse Zeit lang gemacht, dann konnte ich nicht mehr und habe mir gesagt: ‹Jetzt reicht es, basta, ich kann nicht mehr›», berichtet die Informatikerin.

Proteste in Rom

Gemäss der pensionierten Gynäkologin Lisa Canitano ist die hohe Zahl an Verweiger:innen derweil nur die «Spitze des Eisbergs». Das Problem sei der Teil, den man nicht sehe. «Hinter den hohen Verweigerungszahlen steht die katholische Kirche, die ihr Land zurückhaben will.» Dies zeigt sich bereits bei der medizinischen Ausbildung: «Wenn du an einer der vielen katholischen Universitäten Italiens Medizin studieren willst, wirst du erst gar nicht zugelassen, wenn du nicht Verweiger:in bist», erklärt Canitano. «Beim Vorstellungsgespräch fragen sie dich nach dem Leben der Heiligen – und notieren sich das: Er weiss alles über den heiligen Paulus, er hat keine Ahnung vom heiligen Petrus, er ist Verweigerer und gegen die gleichgeschlechtliche Ehe.»

Am Samstag, dem 26. November, strömen 100 000 Aktivist:innen aus ganz Italien in die Hauptstadt auf die Piazza della Repubblica. Es ist die Demonstration zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, der am Vortag begangen wurde. Viele Demons­trant:innen tragen das fuchsiafarbene Halstuch des queerfeministischen Kollektivs Non una di meno (Nicht eine weniger), das die Kundgebung organisiert hat. Immer wieder erschallen spontan Sprechchöre: «Non una, non una, non una di meno.»

Eine junge Frau hält ein Plakat in die Höhe, auf dem in grossen Lettern steht: «Selbstbestimmung ist unser einziges Gesetz». Sie heisst Sara und ist mit einer Gruppe Frauen aus dem süditalienischen Caserta angereist. Für den Grund ihres Kommens findet sie unmissverständliche Worte: «Wir sind hier, weil wir klarmachen wollen, dass wir gegen die faschistische, rechtsextreme Regierung sind.» Auf dem Plakat der 35-jährigen Giulia wiederum klebt ein Drahtkleiderbügel, wie er vor der Legalisierung für «hausgemachte» Aborte benutzt wurde. «Nie wieder», steht darunter. «Mit dieser neuen Regierung fühlen wir uns nicht sicher», schildert Giulia, «wir stehen unter Beschuss. Deswegen finde ich es wichtig, heute hier zu sein, um zu zeigen, dass es uns gibt. Und dass wir keine Angst haben.»

«Wie jene, die Hexen verbrannten»

Wie aber könnte in Italien der Zugang zu Abtreibungen in der Praxis verbessert werden? Rein rechtlich wären öffentliche Stellenausschreibungen für Nichtverweiger:innen eine Möglichkeit, sagt Rechtsanwalt Miguel Coraggio in einem Onlineinterview. Landesweit weiss er aber nur von drei solcher Initiativen. Zwar wurden gegen sie Rechtsmittel eingelegt, diese hatten aber vor Gericht keinen Erfolg. «Die Ausschreibungen waren gut gemacht», lobt der Rechtsanwalt. «Für die Stellen wurde nach Ärzt:innen gesucht, die für die gesetzesmässige Anwendung des Gesetzes Nr. 194 tätig sein werden, nicht nach Nichtverweiger:innen.»

Dies zeigt: Was fehlt, ist allein – darin sind sich alle Interviewten einig – der politische Wille. Und das nicht erst seit dem Wahlsieg der Rechtskoalition im September 2022. Solange sich das nicht ändert, sind ungewollt Schwangere in Italien weiterhin die Leidtragenden. Doch nicht nur sie.

Die Sizilianerin Valentina Milluzzo war nach einer erfolgreichen künstlichen Befruchtung mit Zwillingen schwanger. In der 17. Schwangerschaftswoche wurde die 32-Jährige wegen einer drohenden Fehlgeburt ins staatliche Krankenhaus Cannizzaro in Catania eingeliefert. Zwei Wochen später, am 16. Oktober 2016, war sie tot. Gestorben an einer Blutvergiftung, weil alle Gynäkolog:innen der Station «Lebensschützer:innen» waren. Sie hatten sich geweigert, bei Milluzzo eine lebensrettende Abtreibung durchzuführen. Nicht solange der Herzton des zweiten, noch lebenden Fötus zu hören war.

Für Gynäkologin Lisa Canitano ist die Sache klar: «Das sind dieselben Leute, die die Hexen verbrannt haben. Bei ihnen steht die Frau unter dem Embryo, dem Fötus, dem Ehemann.» Vor zwei Monaten wurden vier der sieben angeklagten Ärzt:innen zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Der Schuldspruch lautet auf fahrlässige Tötung.

Die Mutter der Verstorbenen nimmt in einem auf Youtube veröffentlichten Video kein Blatt vor den Mund: «Valentina ist nicht aufgrund von Gewissensverweigerung gestorben. Denn dafür müssten diese Verweiger:innen erst einmal ein Gewissen haben.»

* «Mai dati»-Karte: www.maidati.it