Proteste in Peru: Sozialer Kollaps

Nr. 51 –

Präsident Pedro Castillo wurde seines Amtes enthoben, weil er den Kongress auflösen wollte. Warum campieren nun Bauern und indigene Aktivistinnen im Zentrum der Hauptstadt gegen die Absetzung?

Aufstände, Dutzende Strassenblockaden, gesperrte Flughäfen und Angriffe auf Polizeistationen: Die Amtsenthebung von Präsident Pedro Castillo durch den Kongress am 7. Dezember hat in ganz Peru heftige Proteste ausgelöst – vor allem im Süden des Landes. Bis am Mittwoch gab es über zwanzig Todesopfer, die meisten durch Schusswaffen von Polizei und Militär. Hinzu kommen gegen 400 Verletzte und Hunderte Inhaftierte.

Die neue Regierung von Präsidentin Dina Boluarte hat den Ausnahmezustand ausgerufen. Im Regierungsviertel, auf Nationalstrassen und an Flughäfen sind Soldaten positioniert. Die Versammlungsfreiheit ist aufgehoben, womit die Sicherheitskräfte faktisch freie Hand haben, mit tödlicher Gewalt gegen Demonstrant:innen vorzugehen.

In Lima ist die Stimmung aufgeladen – mit Wut, Trauer und Angst.

Auf dem Manco-Cápac-Platz im Zentrum der Hauptstadt Lima ist die Stimmung aufgeladen – mit Wut, Trauer und Angst. Hier campieren viele der Protestdelegationen, die aus dem ganzen Land angereist sind. William* ist Wortführer einer Ronda campesina, einer autonomen Bauernpatrouille, aus der nördlichen Amazonasregion. «Pedro Castillo ist der einzige legitime Präsident, den wir gewählt haben – er muss wieder ins Amt gesetzt werden», meint er kategorisch. «Wir werden hier so lange ausharren, bis wir das erreicht haben.»

Das Misstrauen ist gross

Der brutalen Repression zum Trotz ist ein landesweiter Streik angekündigt. Weitere Gruppen seien unterwegs nach Lima, zum Teil zu Fuss. Genaueres will oder kann niemand sagen. Die Mobilisierung ist dezentral organisiert, direkt von den bäuerlichen und indigenen Gemeinden und ihren regionalen Gremien. Das Misstrauen ist gross, weil bekannte Exponent:innen juristisch verfolgt werden. Umso dankbarer seien sie für die Unterstützer:innen, sagt William, die sie in Lima mit Essen, Matten und Decken versorgten.

Junge und ältere Aktivist:innen diverser Basisgruppen treffen sich derweil in einem Lokal in der Hauptstadt. Ein grosser Topf Essen steht auf dem Herd. In einer Ecke stapeln sich gespendete Essensvorräte, Gasmasken und Helme. «Wir stehen aufseiten der Protestierenden aus den Provinzen», erzählt Alex von der Gruppe Coordinadora 14N, der die Demonstrationen mit Videokameras begleitet. Es sei ganz anders als beim Staatsstreich vor zwei Jahren, als vor allem die Jugend aus Lima dafür sorgte, dass der vom verhassten Kongress eingesetzte Präsident Manuel Merino nach nur sechs Tagen wieder zurücktreten musste. «Viele, die damals auf der Strasse waren, bleiben jetzt zu Hause, weil sie Castillo nicht unterstützen wollen.»

«Es geht nicht mehr um Castillo», meint dagegen die feministische Aktivistin Sasa, «sondern darum, möglichst bald Neuwahlen abzuhalten, damit die autoritären Kräfte sich nicht an der Macht festkrallen können.» Was sich Castillo auch immer gedacht habe, als er versucht habe, den Kongress aufzulösen – man könne es kaum einen Staatsstreich nennen, wenn nicht mal die eigenen Minister:innen, geschweige denn das Militär diesen unterstützten. Castillos eigene Sicherheitseskorte übergab ihn beim Versuch, in die mexikanische Botschaft zu flüchten, der Polizei. Allerdings habe er den perfekten Vorwand für den eigentlichen Staatsstreich geliefert, der danach gekommen sei: die Express-Amtsenthebung ohne Verfahren, der Verrat der Vizepräsidentin Boluarte, die sich von den Rechten vor den Karren spannen liess, indem sie die Proteste in die Nähe des Terrorismus rückte und das Militär auf die Strassen schickte. Boluarte habe sich untragbar gemacht, so Sasa: «Sie hat Blut an den Händen.»

Abscheu und Klassendünkel

Die Kongressmehrheit und all jene, die systematisch an Castillos Absetzung gearbeitet hatten, triumphieren jetzt. Bei den grossen Medienhäusern wird schon seit der Wahl im Juni 2021 im Gleichklang an der Demontage des Dorflehrers gearbeitet, der quasi aus dem Nichts ins höchste Amt des Landes gewählt worden war. Täglich wurden neue Vorwürfe aufgetischt, vermischt mit kaum kaschierten rassistischen Klischees und Klassendünkel. Die Abscheu, mit der die alte Limaer Elite auf Castillo herabschaute, wurde von seinen Wähler:innen genau registriert.

Was jetzt in Peru geschehe, schreibt der Historiker José Carlos Agüero, sei der Ausdruck eines sozialen Kollapses. Denn Castillo sei nicht einfach nur ein unfähiger Politiker, sondern vor allem ein Symbol, mit dem sich ein Grossteil der historisch marginalisierten Bevölkerung identifiziere. «Denjenigen, die für Castillo stimmten, wurde klarer als vielleicht jemals zuvor in der Republik, was die Elite, die Massenmedien und ein grosser Teil der Bürger Limas über sie und ihre Stimmen dachten: Es waren verlorene Stimmen, inhaltsleer, von der Herkunft befleckt, weil sie von minderwertigen Menschen stammten, Indios, Ignoranten und obendrein Terroristen.» Ihre Wut kann sich somit nur noch auf der Strasse entladen.

So ganz eindeutig verlaufen die Konfliktlinien zwischen Hauptstadt und Regionen dann aber doch nicht: Gemäss einer Umfrage des Instituto de Estudios Peruanos lehnen 71 Prozent die Präsidentschaft von Boluarte ab. In Lima sind es 63, im ländlichen Raum 77 Prozent. Bezüglich des Kongresses sind sich Stadt und Land einig: 80 Prozent stehen ihm ablehnend gegenüber.

* Zum Schutz vor Repression werden die Aktivist:innen nur mit Vornamen genannt.