Proteste in Peru: «Warum zum Teufel kommt ihr in mein Land, um es zu zerstören?»

Nr. 15 –

Die peruanische Aktivistin Lourdes Huanca über die politische Situation in ihrer Heimat, die Rolle der indigenen Bevölkerung, die Ausbeutung ihrer Ressourcen und die Verantwortung Europas.

Lourdes Huanca an einem Podium im Theater Neumarkt in Zürich
«Die Uno müsste die Länder in die Pflicht nehmen, in denen Unternehmen wie Glencore sitzen»: Lourdes Huanca. Foto: Theater Neumarkt

WOZ: Frau Huanca, in den letzten Monaten demonstrierten in Peru Tausende gegen die Amtsenthebung und die Inhaftierung von Präsident Pedro Castillo. Was passiert da in Ihrem Land?

Lourdes Huanca: Seit der Kongress unseren Präsidenten am 7. Dezember gewaltsam absetzte, hat sich die Lage verschärft. Die indigene Bevölkerung war aber schon zuvor in Aufruhr: seit Pedro Castillo vor mehr als anderthalb Jahren ins Amt kam. Von da an haben die grossen Unternehmen und die Legislative alles getan, um ihm das Regieren unmöglich zu machen. Sie haben den Indigenen Rassismus und Verachtung entgegengebracht. Mit Castillos Absetzung ist die Bevölkerung dann rebellisch geworden.

Waren Sie bei den Protesten dabei?

Ja. Als Präsidentin der Nationalen Föderation der Bäuerinnen, Handwerkerinnen, indigenen Frauen, Ureinwohnerinnen und erwerbstätigen Frauen von Peru (Fenmucarinap) war ich mit Vertreter:innen anderer Organisationen auf der Strasse. Allerdings schon seit Beginn von Castillos Amtszeit. Tag für Tag standen wir in Lima auf der Plaza San Martín in der Nähe des Kongresses: für die Demokratie und dafür, dass der rechtmässig gewählte Präsident nicht gestürzt wird.

Die Aktivistin

Lourdes Huanca Atencio (53) ist eine der bekanntesten indigenen Aktivist:innen Perus. Als Expertin nimmt sie regelmässig an Projekten der Uno teil. Sie ist Präsidentin der feministischen Organisation Fenmucarinap, die heute laut eigenen Angaben über 160 000 Frauen vertritt. Die NGO beschäftigt sich mit Themen wie Saatgut, Ernährungssouveränität oder häusliche Gewalt und hat ein breites Bildungsangebot für ihre Mitglieder.

Wie ist die Situation heute, nach vier Monaten mit grossen Demonstrationen, Strassenblockaden und brutaler Repression?

Wir leben in einer Art Diktatur, Menschenrechte gelten nicht mehr. Laut den Zahlen unterschiedlicher Nachrichtenagenturen wurden um die sechzig Personen durch Kugeln des Militärs und der Polizei getötet, wir gehen sogar von achtzig aus. Bis heute wurde niemand dafür zur Verantwortung gezogen. Die Regierung sagt, es müsse ein Dialog stattfinden. Aber wie sollen wir mit Leuten reden, die Bewaffnete geschickt haben, um uns zu töten?

Das heisst, die Proteste gehen weiter?

Seit es Mitte März in verschiedenen Regionen zu schlimmen Unwettern kam, haben wir eine Pause eingelegt. Die Zerstörung war schrecklich, viele Brüder und Schwestern standen plötzlich vor dem Nichts. Wir werden unseren Kampf im Juli wieder mit voller Kraft aufnehmen. Dann wählen die Abgeordneten die Kongressleitung neu. Wir hoffen, dass diese bereit ist, zuzuhören und mit der Bevölkerung zusammenzuarbeiten.

Protestiert Ihre Bewegung immer noch in erster Linie gegen die Absetzung Castillos?

Wir fordern weiterhin seine Freiheit. Zudem wollen wir, dass Dina Boluarte, die das Amt der Präsidentin unrechtmässig übernommen hat, abgesetzt wird, denn sie hat uns betrogen. Vor den Wahlen hatte sie uns versprochen, dass sie auf der Seite von uns Indigenen sein würde. Weiter fordern wir die Auflösung des Kongresses und die Einsetzung einer verfassungsgebenden Versammlung.

Sie sind seit Januar in Europa, um über die Vorkommnisse in Ihrem Land zu berichten. Haben Sie vor, nach Peru zurückzukehren?

Im Moment kann ich nicht nach Peru zurück. Ursprünglich wollte ich nur für eine Woche verreisen. Ich kam auf Einladung von linken Abgeordneten aus Brüssel nach Europa. Am 9. Januar, dem Tag, an dem ich Peru verliess, verübte die Polizei ein Massaker. Achtzehn Kamerad:innen wurden während Protesten in der Stadt Juliaca im Südosten getötet. Ich sah es als meine Aufgabe, das anzuprangern. Hier in Europa luden mich auch die Uno und Genoss:innen in Spanien ein. Der ehemalige peruanische Botschafter in Spanien warf mir nach meiner Rede dort Verleumdung vor. Weil ich von den Massakern sprach und sagte, Dina Boluarte sei eine Usurpatorin. Die peruanische Presse startete darauf eine Schmutzkampagne gegen mich und meine Familie. Dennoch wollte ich zurückkehren, ich hatte schon ein Ticket. Aber Kamerad:innen meinten, in Peru warte man darauf, mich zu verhaften, und dass ich der Bewegung hier mehr nützen würde.

Welche Unterstützung wünschen Sie sich von den Menschen in Europa?

Wir sind sehr froh darüber, dass es zum Beispiel in Spanien gelungen ist, den Verkauf von Waffen an Peru zu stoppen. Auch die Uno hat klare Worte gefunden. Solche Entwicklungen in Europa sind wichtig, schliesslich kommen auch die grossen Unternehmen, die unsere Heimat ausbeuten, von hier.

Haben Europa und insbesondere die Schweiz als Sitz multinationaler Rohstoffkonzerne eine besondere Verantwortung gegenüber der peruanischen Bevölkerung?

Definitiv! In der Provinz Cusco etwa kam es wegen der Verschmutzung durch Bergbauunternehmen zu einer Umweltkatastrophe. Ein Fluss stirbt. Unsere Kinder, Brüder und Schwestern haben Blei im Blut. In Europa sind die verantwortlichen Unternehmen brave Steuerzahler. Sie halten sich an die Gesetze, verschmutzen nichts, alles ist wunderbar. Aber warum zum Teufel kommt ihr in mein Heimatland, um es zu zerstören? Gerechtigkeit und Menschenrechte sollten überall gelten. Die Uno müsste die Länder in die Pflicht nehmen, in denen Unternehmen wie Glencore sitzen. Neuerdings wächst auch der Appetit dieser Firmen auf Lithium, von dem wir grosse Vorkommen haben. Und es geht nicht nur um Verschmutzung, sondern auch um den Klimawandel, dessen Auswirkungen wir spüren.

Im Süden Perus, wo viele Bergbaugebiete liegen, haben die Proteste begonnen. Hier lebt auch ein grosser Teil der Indigenen und der Anhänger:innen von Pedro Castillo.

Später haben sich auch junge Leute und Student:innen in Lima angeschlossen. Aber begonnen hat der Kampf im Süden mit den Völkern der Aymara und der Quechua. Man könnte meinen, es wäre logisch, dass wir zumindest ein bisschen davon profitieren, wenn Unternehmen bei uns Gold, Kupfer, Lithium und andere Bodenschätze abbauen. Diese Region sollte gute Strassen haben, gute Schulen, ein gutes Spital, Trinkwasser, eine Kanalisation. Stattdessen haben wir nichts. Castillo hatte angekündigt, den Reichtum unseres Landes zurückzugewinnen und die Bergbaukonzessionen nicht zu erneuern. Deswegen sitzt er nun im Gefängnis.

Peru ist nicht das einzige lateinamerikanische Land, in dem sich die indigene Bevölkerung erhoben hat. Findet auf internationaler Ebene ein Austausch statt?

Ja, Fenmucarinap ist Teil verschiedener internationaler Netzwerke, etwa der internationalen Kleinbauernbewegung Via Campesina oder des indigenen Komitees Abya Yala. Wir leisten heute mehr Widerstand gegen die Politik und die Unternehmen, weil wir es leid sind, ausgeschlossen zu werden. Und wir sind es leid, Verfassungen zu haben, die nur für die Mächtigen geschrieben wurden.