Von oben herab: Roger Top

Nr. 51 –

Stefan Gärtner über verdichtete Lyrik

Ich kann hier ja behaupten, was ich will, und auch das muss man mir glauben: dass ich eben erst, am Montagmittag nach dem Endspiel, erfahre, wer Fussballweltmeister geworden ist. Mich hat diese ganze WM ja schon nicht interessiert, teils aus vagen Boykotterwägungen heraus, hauptsächlich aber, weil ich vor vier Jahren auf dem Fernsehsofa sass und etwas in mir den Entschluss fasste, ab sofort nicht mehr Fussball zu schauen. Ich hatte alles gesehen, und ich konnte nicht mehr.

«Fängt Publizistik an stabzureimen, ist es zuverlässig Ramsch.»

Das geht bislang erstaunlich gut, eben weil ich es mir nicht verkneifen muss, sondern es einfach aufgehört hat, so wie das Bedürfnis, eine Zigarette zu rauchen, plötzlich aufgehört hat. Also bin ich seither nikotinfrei und fussballabstinent und entnehme die Nachricht des Wochenendes einem Twitter-Thread von Roger («Willemsen») Köppel: «Bravo Argentinien! Messi – er hat’s einfach verdient. Sie mussten zweimal durch die Hölle», auch wenn Messi beim ersten Höllengang (WM-Finale 1990, 0 : 1, Weltmeister: Deutschland) noch gar nicht dabei war. Von Köppels Twitter-Thread erfahre ich übrigens bloss von einem wohlmeinenden Kollegium, denn Twitter-abstinent bin ich natürlich ebenso.

«Beste WM aller Zeiten? Was für eine Blamage unserer Miesepetermedien. Bravo, Katar. Bravo, Gianni Infantino! Und dann dieser Final. Das ist Fussball vom Allerfeinsten.» Die Idee von Twitter ist, dass ich keinen Gedankenblitz von R. Köppel mehr verpassen muss («Schiri hervorragend. Top»), und das spricht noch nicht gegen Twitter, denn auf den köppelschen Leitartikel, der in aller selbstgerechten Genugtuung auf uns Miesepetermedien einharkt, ist ja gleichfalls gut zu verzichten. Twitter bietet immerhin die Möglichkeit, in Kurzform zu erfahren, was man in Langform gar nicht aushielte. Im Wohnzimmer haben die Kinder mal wieder den Bücherstapel auf dem Fensterbrett zerschossen, und ich habe die Aufräumarbeiten genutzt, um den schmalen Band von W. H. Auden übers Bett zu stellen, in den ich auch schon länger nicht mehr geschaut habe. Auden hat sowohl Kurz- als auch Langgedichte geschrieben, und mit den Langgedichten kann ich gar nichts anfangen. Ich verstehe überhaupt den Sinn von langen Gedichten nicht, denn ist Lyrik nicht eben Verdichtung? Köppel weiss es: «Katar-Rasen, Oase des Friedens. Milliarden schauen darauf. Tolle WM. Was für ein Final-Spektakel.» Schöner, poetischer, wahrer geht es ja nun nicht; eine Stunde zuvor: «Argentinien kontrollierte den Match. Jetzt droht Tango-Tragik.» Und noch einmal früher: «Stumpfe Franzosen bis jetzt ohne Rezept gegen messianische Angreifer.» Bzw.: «Entfesselte Gauchos.»

Vom entfesselten Grosskäser gar nicht zu reden, der nach Messis 1 : 0 erstmals von «Argentiniens neuem Messias» Mitteilung machte und vorm Anpfiff dann doch eine Art Leitartikel hatte versenden müssen: «WM des Friedens und der Toleranz. Unsere moralisierenden Mecker-Medien und die Armbindenpolitiker erleben eine weitere Blamage. Fussball bringt die Menschen zusammen, in Kriegszeiten besonders wichtig, super organisiert alles von Katar. Beeindruckend.»

Zwei Lebensregeln: Wenn in TV-Werbespots Leute beginnen, vor Produktfreude zu tanzen, handelt es sich zuverlässig um Ramsch; wenn Publizistik anfängt stabzureimen, gilt dasselbe, auch wenn ich es beeindruckend finde, mit welcher Freude die Herren von der vierten Gewalt nicht nur die prall gefüllte Kopfblase vor uns entleeren, sondern auch noch in die Selfielinse grinsen, als sprächen die Worte nicht für sich: «WM der Lebensfreude und des Friedens in Katar. Bin mitten unter den marokkanischen Fans, geniale Stimmung, tolle Fans, super Team! Leidenschaft und Herz pur.»

Auch da kann einer behaupten, was er will, und dass dieser es ist, der die Töne spuckt, lässt mir mein Desinteresse nur umso glücklicher vorkommen. Ich wünsche schöne Weihnachten.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

Sein Buch «Terrorsprache» ist im WOZ-Shop erhältlich unter www.woz.ch/shop.