Sachbuch: Buchführung mit der Peitsche

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Ist der Kapitalismus wirklich in den Fabriken entstanden? In ihrer Studie «Sklaverei bilanzieren» beschreibt die US-Historikerin Caitlin Rosenthal die Plantagen als Wiege des modernen Humankapitals.


1753 beschwerte sich ein Pflanzer auf Barbados in einem Brief, dass «wir keine Kinderhacken haben, die kleiner sind als Grösse Nr. 0». Die Insel in der Karibik war zu dieser Zeit eine wichtige britische Kolonie, unter dem Einsatz von Sklav:innen wurde dort Zucker angebaut. Das kurze Zitat veranschaulicht die Grausamkeit der Sklaverei vielleicht mehr als die berühmte Fotografie des ehemaligen Sklaven Gordon mit den Narben von Peitschenhieben auf dem nackten Rücken.

Teile des Briefes finden sich nun im Buch «Sklaverei bilanzieren» von Caitlin Rosenthal. Die US-Historikerin widmet sich in ihrer Studie den Geschäftspapieren von Sklavenhaltern in Nordamerika und der Karibik. Ihre These ist so einfach wie innovativ: Nicht die Fabriken des 18. und 19. Jahrhunderts seien die Wiege der modernen Personalbuchhaltung und Unternehmensführung gewesen, sondern die Zucker- und Baumwollplantagen in der sogenannten Neuen Welt.

Vorbilder für Fabrikmanager

Was Rosenthal in den Unterlagen der Pflanzer entdeckt, ist bemerkenswert. Sie findet erste Züge eines Konzepts von Humankapital, inklusive der Dokumentation der beruflichen Fähigkeiten der Versklavten. Die Gewalt der Peitsche liess die Sklavenhalter auf zynische Weise kreativ werden, und die Autorin beschreibt anschaulich, wie buchhalterische Kontrolle und rohe Gewalt Hand in Hand gingen. Auf den Plantagen wurden Produktivitätsanalysen durchgeführt, um die Pflückmenge bei der Baumwollernte zu optimieren – über fünfzig Jahre bevor Frederick W. Taylor mit seinen berühmten Bewegungsstudien begann. Sklav:innen galten als Ware, ihr Wert konnte ermittelt werden. So gingen Pflanzer dazu über, sie nach Alter und Fähigkeit abzuschreiben, was damals gerade einmal die Eisenbahnindustrie mehr schlecht als recht für ihre Schienen probierte. Dass menschliche Arbeitskraft so quantifiziert und optimiert werden konnte, war laut Rosenthal nur denkbar, weil den Sklav:innen ihr Menschsein abgesprochen wurde.

Rosenthals Zugang ist auch deshalb innovativ, weil die Geschichte des Kapitalismus sonst meist so erzählt wird, als sei seine Entstehung untrennbar mit der Idee der Freiheit verbunden. Sklaverei wird in der gängigen Perspektive als etwas Vormodernes abgespalten: Weil Sklav:innen keine freien Lohnarbeiter:innen waren, werden sie nicht zum Proletariat gezählt, wie es während der Industrialisierung massenhaft in die Fabriken strömte. Zugleich war die Nähe der modernen Fabrikarbeit zu dieser Form der Zwangsarbeit für die Chronist:innen des Kapitals unangenehm, soll die Entstehung des Kapitalismus doch eine Erfolgsgeschichte bleiben. Dabei, so zeigt Rosenthal, bezogen sich die frühen Fabrikmanager positiv auf die unermessliche Macht der Sklavenhalter.

Die Autorin argumentiert, dass die Fabriken zur Hochzeit der Sklaverei niemals die gleiche Menge an Arbeitskräften wie die grossen Plantagen beherbergten. Sie findet Unterlagen, in denen die Pflanzer Produktivität und Arbeitsabläufe akribisch genau dokumentierten und in Geldwerte umrechneten – während die Fabrikanten in Europa noch damit beschäftigt waren, überhaupt genügend Arbeitskräfte in ihre Produktionshallen zu bekommen.

Testfeld für die Industrie

Ob beabsichtigt oder nicht, stützt sich Rosenthal damit auf eine Strömung, die im englischsprachigen Raum als «Schwarzer Marxismus» bekannt geworden ist. Auch dieser erachtet die Plantagenökonomie für die frühe Entwicklung des Kapitalismus als wichtiger als die Fabriken Europas. Als Grundlagenwerk des Schwarzen Marxismus gilt die berühmt gewordene Geschichte der Haitianischen Revolution des britisch-karibischen Schriftstellers C. L. R. James. Seine Hauptthese: Die Revolution in der ertragreichen Zuckerkolonie war deshalb erfolgreich, weil es sich um einen proletarischen Massenaufstand handelte, in dem versklavte Landarbeiter:innen rebellierten.

Die Arbeit auf den Plantagen zeigt, dass nicht nur die Dampfmaschine eine wichtige Rolle im frühen Kapitalismus spielte: Mit der Steigerung der Baumwollproduktion entstand mit der «cotton gin» zur Trennung von Fasern und Samenkernen die erste industrielle Maschine, und auch Zuckerplantagen waren eben nicht nur Felder, sondern vor allem grosse Manufakturen, in denen das Zuckerrohr ausgekocht und das fertig verarbeitete Produkt in Fässer gefüllt wurde. Die Kolonien waren Schulen der Industrie.

Mit dieser Perspektive hoffte der Schwarze Marxismus, den nichtweissen Teil eines globalen Proletariats auch analytisch aus der politischen Passivität zu reissen. Der mit und durch die Sklaverei entstandene Rassismus zementierte diese Passivität noch. Rosenthal hat weniger politische Ambitionen, und über Rassismus findet sich in ihrer wissenschaftlichen Studie zur Geschichte des Kapitalismus nichts. Er muss auch nicht ihr Thema sein, aber wenn es um Sklaverei geht, sollte Rassismus zumindest erwähnt werden. Im Sinne einer stichhaltigen Beweisführung hat das Buch auch seine Redundanzen und liest sich daher etwas zäh. Dennoch: Rosenthals Vorhaben, die Sklaverei ins Zentrum der Geschichte des Kapitalismus zu rücken, bleibt verdienstvoll.

Cover des Buches «Sklaverei bilanzieren. Herrschaft und Management».

Caitlin Rosenthal: «Sklaverei bilanzieren. Herrschaft und Management». Aus dem Englischen von Jörg Theis. Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2022. 411 Seiten. 44 Franken.