Sachbuch «King Cotton»: Die blutigen Früchte der Baumwolle

Nr. 10 –

Ohne Baumwolle und Sklavenhandel kein europäischer Kapitalismus – und ohne Staatsmacht auch nicht. Der Historiker Sven Beckert liest die Industrialisierung neu.

Ein früher «global player»: Indische Erzeuger liefern Baumwolle bei einer Zweigstelle der in Winterthur beheimateten Firma Volkart ab (undatierte Aufnahme). Foto: Archiv Gebrüder Volkart, Winterthur

Eine der grossen, immer wiederkehrenden Historikerfragen lautet, warum der Kapitalismus ausgerechnet in Europa entstand und sich von hier aus ausbreiten konnte. Immerhin waren andere Weltregionen im 13. oder 14. Jahrhundert höher entwickelt – der Stand der Technologie allein kann es also nicht gewesen sein. Viele HistorikerInnen verweisen in diesem Zusammenhang auf nicht zwingende, aber sich gegenseitig verstärkende Faktoren: der Konkurrenzdruck zwischen Produzenten, die Verfügbarkeit von Kapital, der Zuzug von Arbeitskräften vom Land, die relative politische Autonomie der Städte, die Leistungsethik des protestantischen Bürgertums und so weiter.

Der in Harvard lehrende Historiker Sven Beckert rückt in seinem Buch «King Cotton» zwei weitere Aspekte in den Mittelpunkt: nämlich den «Kriegskapitalismus», also die blutige Enteignung von Land und die massenhafte Versklavung von Arbeitskräften im Rahmen kolonialer Herrschaft, und das Entstehen einer modernen Staatlichkeit, die den Krieg nach aussen mit einer Verrechtlichung der Machtbeziehungen nach innen verband.

Beckerts Buch ist eine empirisch fundierte Untersuchung zur Geschichte der Baumwolle – vom Anbau und der Verarbeitung bis hin zum Massenkonsum. Doch der 1965 in Deutschland geborene Beckert baut daraus, sehr elegant, eine weltumspannende Sozialgeschichte des Kapitalismus. Dass die Industrialisierung Europas mit der blutigen Kolonialisierung des Südens einherging und die Entfaltung des freien Unternehmertums einer Staatsmacht bedurfte, die traditionelle Solidargemeinschaften mit Gewalt zerschlug, dürfte LeserInnen von Karl Marx, Frantz Fanon oder Michel Foucault nicht unbekannt sein. Doch selten zuvor sind diese Prozesse so anschaulich, konkret und verdichtet dargestellt worden wie in «King Cotton».

Stoffe gegen SklavInnen

Die Baumwollverarbeitung hatte sich in Asien, Afrika und Lateinamerika unabhängig voneinander entwickelt, spielte in Europa zunächst jedoch kaum eine Rolle. Ab 1600 gewannen Baumwolltextilien aber rasant an Bedeutung: Europäische Händler erwarben in Indien Stoffe, um sie in Afrika als Tauschmittel beim Sklavenhandel verwenden zu können. So nutzten die Europäer die asiatische Textilproduktion, um in Lateinamerika ihre Plantagenökonomie zu etablieren. «Niemals zuvor in den fünf Jahrtausenden der Geschichte der Baumwolle», so Beckert, «war ein solch weltumspannendes System entwickelt worden. Nie zuvor hatte man mit den Erzeugnissen indischer Weber Sklaven in Afrika gekauft, damit diese auf Plantagen in Amerika arbeiteten, wo sie Agrarprodukte für europäische Verbraucher herstellten.»

Beckert zeigt in seinem Buch aber auch, dass sich diese globalen Handelsnetze kontinuierlich veränderten. Mit der wachsenden Nachfrage nach Baumwolltextilien entstand ab 1600 auch in Europa, zunächst vor allem in Britannien, ein Baumwolle verarbeitendes Gewerbe. Da Löhne und Arbeitsbedingungen in den Städten von den Gilden bestimmt wurden, schuf sich die Industrialisierung ihr eigenes Prekariat. Die Spinner und Weber arbeiteten oft in einem «Verlagssystem», also in Heimarbeit, und lebten in der ländlichen Peripherie von Städten.

Erst die von der Staatsmacht betriebene Zerschlagung bäuerlicher Gemeinschaften und die Privatisierung von Allmenden sorgten dann für den massenhaften Zustrom billiger Arbeitskräfte, der ein «freies» Lohnarbeitssystem möglich machte. Die technischen Entwicklungen taten ein Übriges: Sie erhöhten die Produktivität und verschafften den europäischen Produzenten Wettbewerbsvorteile. Die europäischen Händler agierten dabei immer systematischer als «global player» – was Beckert unter anderem am Beispiel der Winterthurer Familie Volkart nachzeichnet. Die Schweizer Textilhändler errichteten nämlich ein globales Handelsnetz, wobei der Aufkauf indischer Baumwolle, die Entkernung vor Ort und die Vermarktung der Baumwollballen an den europäischen Produktionsorten ohne Zwischenhändler organisiert wurde. Familienbande dienten hier als Grundlage für Kredit zwischen den Handelsstationen.

Krisenhaft und widersprüchlich

Im Unterschied zu vielen anderen wirtschaftshistorischen Darstellungen beschreibt «King Cotton» den Globalisierungs- und Industrialisierungsprozess aber nicht als Gegenpol zur ursprünglichen Akkumulation. Beckert zeigt vielmehr auf, dass die europäische Modernisierung den «Kriegskapitalismus» weiter verschärfte: Die Ausbreitung der Plantagenökonomie in den Südstaaten der USA war eine direkte Folge von Europas Industrialisierung. Zur Produktion von Weltmarktbaumwolle wurde die landwirtschaftliche «frontier» vorangetrieben. Europäische Siedler raubten den «native Americans» ihr Land und liessen es durch SklavInnen urbar machen. Viele europäische Städte verdanken ihren Aufstieg dieser Raubökonomie – so etwa Liverpool, das nicht nur zum wichtigsten Umschlagplatz für Baumwolle wurde, sondern auch ein zentraler Stützpunkt des globalen Sklavenhandels war.

Beckert macht deutlich, dass dieser Prozess keiner zentralen Direktive folgte. Die Verlagerungen im Weltsystem verliefen stets krisenhaft und widersprüchlich. Aber er zeigt doch auch, dass die zentrale Idee des Liberalismus – die von sich selbst gestaltenden, autonomen Märkten – wirtschaftshistorisch kaum zu halten ist. Dass sich europäische Staaten und später die USA in der globalen Arbeitsteilung so erfolgreich behaupten konnten, war vor allem der Herausbildung einer modernen Staatsmacht geschuldet. Dieser Staat garantierte nicht nur Rechtssicherheit zwischen Handelspartnern oder sorgte durch die Verfolgung von ArbeitsverweigerInnen für die notwendige industrielle Arbeitskraft. Der moderne Staat stellte auch vor allem sicher, dass globale Machtbeziehungen durchgesetzt wurden. Der moderne Staat beruhte auf der Zweiteilung der Welt. «Die ‹innere Welt› beruhte auf Gesetzen, Institutionen und Regeln des Heimatlandes. Die ‹äussere Welt› dagegen war gekennzeichnet von imperialer Herrschaft, ungestrafter Enteignung riesiger Gebiete und unzähliger Menschen.»

Selten ist der Zusammenhang der Weltökonomie mit so scharfem Blick und doch unpathetisch dargestellt worden wie in Beckerts «King Cotton». Der deutsch-amerikanische Historiker bewältigt sein in mehr als einem Jahrzehnt angehäuftes Forschungsmaterial souverän und schreibt ausgehend von einer konkreten Warte eine umfassende Sozialgeschichte der modernen Welt.

Sven Beckert: King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus. Aus dem Englischen von Annabel Zettel und Martin Richter. 525 Seiten. 45 Franken. C. H. Beck Verlag. München 2014