Von oben herab: Warm, wärmer, am wärmsten

Nr. 1 –

Stefan Gärtner sieht Rekorde

Noch eine Frage für die Genderforschung: ob mein Vorurteil stimmt, dass das «Guinness-Buch der Rekorde» eine Sache für kleine Jungen ist, und seien sie längst erwachsen. Die längste Brücke, die meisten Liegestütze, die älteste Oma von Zwillingen – es ist der Rekord als solcher, der von Interesse ist, und nicht so sehr die Tatsache, dass man sich nicht vorstellen kann, wie jemand mehr als zehn Liegestütze schaffen kann. Die Psychologie mag dann ergänzend klären, ob die Rekordlust etwas mit jenem Vergleichszwang zu tun hat, der bei Männern, aus schlicht evolutionären Gründen, vielleicht doch etwas fester im Gehirnlappen steckt.

Was mich betrifft, sind mir Rekorde schon darum verdächtig, weil sie nichts Gutes mehr bedeuten. Jedes der letzten Jahre war eines der heissesten seit Beginn amtlicher Messungen, und der jüngste Silvester war der wärmste seit vermutlich der Kreidezeit; im deutschen Südwesten, wo er an die Schweiz stösst, waren es 20 Grad plus. Einer Eingebung folgend, ziehe ich da das «Tagebuch aus der Zukunft» des deutschen Journalisten Anton-Andreas Guha aus dem Regal: «Der Planet schlägt zurück». Der Band stammt von 1993 und beginnt mit dem Silvestertag 2000, den Guha «Sylvester» schreibt: «Das Thermometer zeigt 22 Grad. Neuer Temperaturrekord für Sylvester. Laue, blaue Luft fächelt durch den Raum. Dagegen Sylvester 1980: klirrender Frost, knöcheltiefer Schnee auf der Bierstadter Höhe, eisigklarer Sternenhimmel.»

Zur ominösen Jahreswende 2000/01 stand ich auf irgendeiner Burg über Budapest (also gewissermassen gleichfalls auf einer «Bierstadter Höhe», hahaha!) und sah vor lauter Nebel nichts; 22 Grad hatte es nicht, klirrenden Frost aber auch nicht. Jetzt hatte es beides innerhalb einer Woche. Auch das gehört zur neuen Zeit, von der die Fiktion, wenn auch mit Verspätung, nun eingeholt worden ist.

Das sind, von einem westlichen Vollholzschreibtisch aus, sehr bequeme, nämlich bloss sentimentale Gedanken, die mit Schneelicht, klammen Fingern und dem Teich zu tun haben, der in Kindheitstagen verlässlich das Eislaufen ermöglichte. Andernorts geht es längst um den Teich, der verschwinden wird oder schon verschwunden ist. Zwar sind den Rhein entlang bereits Exemplare der Nosferatu-Spinne gesichtet worden, die eigentlich in Nordafrika lebt, mehrere Zentimeter gross wird und giftig ist; ihr Biss ist aber nur dem Stich einer Wespe vergleichbar. Erzählt habe ichs meiner tief spinnenskeptischen Frau trotzdem nicht.

Auf der Suche nach einer Wohnung, die nicht ein Drittel des Familienbudgets frisst, standen wir neulich in einer rekordverdächtig günstigen Spitzenbleibe, in deren Keller eine Pumpe installiert war; die Flussnähe war einer der Gründe für den guten Preis. Jetzt wohnen wir nach wie vor teuer, aber auf dem sicheren Berg, was an Silvester einen sehr schönen Blick auf das Feuerwerk im Tal ermöglicht. In Berlin muss es, Rekorde, Rekorde, derweil zu den heftigsten Jahresendkrawallen überhaupt gekommen sein: Feuerwehrleute wurden mit Böllern beworfen und Silvesterraketen in Schaufenster gelenkt. Die Hoffnung, kalifornisches Klima bedeute kalifornische Entspanntheit, wird sich also nicht erfüllen. «Berlin: Viele Böller-Angreifer laut Polizei aus ‹Migranten-Milieu›» (focus.de), und vermutlich ist es einfach so, dass sich da, wie man so sagt, zwei gefunden haben. Wie warm es wohl zuletzt in Nordafrika war? Wie warm wird es da noch werden, und welche Auswirkungen hat das auf die Grösse der Milieus und die Stimmung darin? Die heisseste Zeile des noch jungen Jahres kam derweil aus der Schweiz: «Silvester fordert die Zürcher Polizistinnen und Rettungssanitäter» – dass sich selbst die alte NZZ nümme aufs generische Maskulinum verlässt, dürfte das Ende der Welt, wie ich sie kannte, dann wirklich besiegeln.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

Sein Buch «Terrorsprache» ist im WOZ-Shop erhältlich unter www.woz.ch/shop.