Von oben herab: Schnee
Stefan Gärtner taut auf
Das Wetter ist ein heikles Kolumnenthema, eigentlich gar keins, denn es ist kein Verlass darauf. Setzt man sich am Montag hin und schreibt, wie schade es sei, dass es keine Winter mehr wie früher gebe, als Kinder im hessischen Flachland ganz selbstverständlich auf dem Teich im nahen Wald eislaufen oder im Garten den Wäschekorb mit Schnee befüllen konnten, um aus den Blöcken ein stabiles Iglu zu bauen – schreibt man derlei montags hin, fallen am Dienstag garantiert drei Meter Neuschnee, wenn nicht da, wo man sitzt, dann da, wo die Kolumne erscheint.
Da, wo ich sitze, ist das Wetter kein ganz so heikles Kolumnenthema, weil, wie unser Siebenjähriger weiss, in der Norddeutschen Tiefebene generell nicht viel Schnee fällt. Ich weiss nicht, wo er das schon wieder her hat, aber Schnee ist in den fünf Jahren, die wir jetzt hier sind, wirklich kaum einmal gefallen, und wenn er fiel, blieb er nicht liegen. Ich liebe Schnee, und ich vermisse ihn jetzt schon. Schnee macht die Welt sauber und still. (Es gibt wunderbare Schnee- und Wintergedichte von Jürgen Becker, in denen nur der Frost zu hören ist.) Einmal, auch schon wieder zwanzig Jahre her, fuhr ich auf dem Fahrrad aus der Kneipe heim, bestimmt war ich betrunken, und an irgendeinem weissen Bordstein fädelte ich ein und fiel hin, aber es machte nichts, denn ich fiel auf Schnee. Ein andermal, kaum früher oder später, ging ich nachts von Freunden nach Hause, und es schneite, und ich sah nach oben ins Treiben aus schwarzem Himmel und war auf einmal völlig überzeugt davon, dass mein Leben, dessen Defizite auf keinen Bierfilz passten, recht eigentlich in Ordnung sei, vorausgesetzt, es gebe tags die richtige Arbeit und abends Bier bei besten Freunden und nachts den Schnee; es war, als stehe man in Gottes Weltall selbst, und es war nicht kalt und feindlich, sondern weich und wunderbar.
Die verschneite Welt ist der Gegenentwurf zu der aus tätowierten Cabriofans, zu jenem dräuend ewigen Kalifornien, das im selben Moment seinen Reiz verliert, wo es die Regel wird. Schnee ist, mindestens diesseits von Sibirien, das ganz Andere, schon weil er, um das dumme Achtsamkeitswort zu verwenden, entschleunigt. Als Zürich im Schnee versank, ging (und fuhr) erst einmal gar nichts mehr, und auch darum ist das Wetter kein Kolumnenthema, weil immer alles schon gesagt ist. «Noch vor keiner Generation gabs dreimal so viel Schnee zu dieser Jahreszeit, und alles funktionierte. Jetzt fallen Bäume um, Strassen sind nicht geräumt, und der ÖV kann nicht fahren. Was ist da los?», fragte ein Leserbriefschreiber im «Blick», wie die Beobachtung, dass in der Presse, hat es geschneit wie jahreszeitlich im Grunde üblich, meist gleich von «Schneechaos» die Rede sei, eben auch schon gemacht ist.
Der «Tagi» überschrieb seinen Nachbericht jetzt mit «Nach dem Flockdown», und auch eine Glosse in der NZZ wusste: «Flockdown in Zürich: Wir Flachländer können keine Krise»; und also kann die Wissenschaft, wenn sie mag, feststellen, wer den lustigen «Flockdown» erfunden hat, was vermutlich einfacher ist, als zu bestimmen, wer für das quälende «können» plus irgendwas («Kann er Kanzler?») verantwortlich ist. Bestimmt wars wieder die «Bild»-Zeitung, deren Auslieferung so ein Flockdown recht wirksam behindern würde.
Zwar kann ich Kolumne, aber mit meinen Söhnen hier keinen Schneemann bauen, da müsste ich in den Harz fahren. Der Harz ist eineinhalb Autostunden entfernt, und als wir das letzte Mal da waren, purzelte der damals vierjährige Älteste bei der ersten Fahrt derart vom Schlitten, dass er sich weigerte, wieder aufzusitzen. Dies machte unterm Strich drei Stunden Autofahrt für fünf Minuten Schlittenfahren, und am Schluss haben, gerade in der Tiefe, sowieso Blumfeld recht: «Ein Anblick so vertraut / Noch einmal und es taut / Der Schnee.»
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.