Auf allen Kanälen: Viel Drama unter Tage
Seit zwanzig Jahren arbeiten zwei Brüder aus Kalifornien an «Dwarf Fortress». Die ultrakomplexe Aufbausimulation gilt als Meilenstein der Videospielgeschichte, nun gibt es eine Version fürs breite Publikum.

Prognosen sind naturgemäss mit Vorsicht zu geniessen, diese hier ging aber geradezu spektakulär daneben: 160 000 Mal würde sich die aufgehübschte Version ihres Spieleklassikers «Dwarf Fortress» binnen zwei Monaten auf der Plattform Steam verkaufen, schätzten die Brüder Tarn und Zach Adams. Dieses Ziel hatten sie bereits 24 Stunden nach dem Release erreicht – über Nacht waren die beiden Kalifornier, die schon seit zwanzig Jahren an dem Game arbeiten, Millionäre geworden.
Dieser Publikumszuspruch ist umso bemerkenswerter, als sich die 2006 erstmals veröffentlichte und seither stets weiterentwickelte Urversion von «Dwarf Fortress» bis heute gratis herunterladen lässt. Anders als das seit Mitte Dezember erhältliche Update für den Massenmarkt kann man diese aber nur mittels Tastatur bedienen, es gibt nur eine rudimentäre grafische Oberfläche, stattdessen ist die Imaginationskraft der Spieler:innen gefragt. Trotzdem gilt das Game lange schon als eines der einflussreichsten der Videospielgeschichte.
Jede Menge Drama
Alles beginnt bei «Dwarf Fortress» wie im Märchen, nämlich mit sieben Zwergen, die ausziehen, um in der Fremde zu bestehen. Die Spielerin muss ihnen in einer zufallsgenerierten Welt eine Festung ausheben – in einem Berg oder einfach direkt unter der Erdoberfläche, Hauptsache lichtgeschützt, zu viel Sonne bekommt Zwergen nicht. Durch die Grabarbeit werden Steine und Erze angehäuft, die wiederum dazu dienen, Betten, Tische und Stühle sowie Gebäude zu bauen, in denen sich Alltags- wie Luxusgüter produzieren lassen: eine Schreinerei, eine Schmiede, eine Schmuckmanufaktur, eine Brauerei.
Nach und nach wird die Festung grösser, die Wirtschaftskreisläufe werden komplexer. Floriert der Laden, treffen Migrant:innen ein, und die Bevölkerung wächst. Zudem kommen Handelskarawanen der Menschen oder Elfen vorbei und ab und zu auch weniger wohlwollende Gäste: Kobolde auf Raubzug oder Ungeheuer, die tief unter der Erde lauern.
Der Clou des Games liegt aber weniger darin, dass es sich um eine enorm ausgefeilte Aufbausimulation handelt, die fast schon ein Teilzeitstudium in Mineralogie erfordert. Vielmehr kreiert es vor allem erzählerisch jede Menge Drama: «Dwarf Fortress» schreibt kein Spielziel vor, sondern ist ein digitaler Sandkasten, in dem sich eigene Geschichten entwerfen lassen. Allerdings befeuern dabei detaillierte Mechaniken immer wieder unerwartete und witzige Wendungen, etwa wenn die Siedlung plötzlich von einer Werwolf- oder Vampirplage heimgesucht wird, deren Bekämpfung rigoroses Contact Tracing erfordert. Am Ende fällt jede Festung: Online finden sich unzählige Forenbeiträge oder gar mit aufwendigen Comiczeichnungen illustrierte Videos, in denen Spieler:innen vom Aufstieg und Untergang ihres Zwergenreichs erzählen – «Dwarf Fortress» steht auch exemplarisch dafür, was Fankulturen heute hervorbringen.
Schon längst im Museum
Seit 2012 ist das Game im Museum of Modern Art in New York als Teil einer Schau zur Videospielgeschichte ausgestellt. Gewürdigt wurde damit neben der Komplexität vor allem die eigenwillige Ästhetik der Urversion: Diese stellt die Welt mittels bunter ASCII-Zeichen dar, eine grosse ockerfarbene Null repräsentiert etwa einen Baumstamm, eine blaue Tilde einen Bach. Seine Musealisierung verdankt das Game zudem seiner Strahlkraft: «Minecraft», das meistverkaufte Spiel aller Zeiten, ist massgeblich von «Dwarf Fortress» inspiriert, dasselbe gilt für andere Bestseller wie «Rimworld» oder «Oxygen not included».
Die Adams-Brüder lebten bis dato dennoch von Spenden, die ihnen Fans überwiesen. Dass es nun erstmals eine Version des Spiels mit Grafik und Mausunterstützung gibt, liegt an den Grenzen einer solchen prekären Existenzweise: Vor ein paar Jahren wuchs Zach Adams ein aggressiver Tumor auf der Nase, was in den USA ohne Krankenversicherung rasch den finanziellen Ruin bedeuten kann. Die Brüder entschieden sich daher, ihr Lebenswerk auch einem Massenpublikum zugänglich zu machen und sich so ein finanzielles Polster zu schaffen.
Dieser Plan ist aufgegangen. Laut Tarn und Zach Adams ist ihr Game übrigens trotz epischer Entwicklungszeit noch nicht einmal zur Hälfte fertig. Es werden also wohl noch lange neue Geschichten mit «Dwarf Fortress» geschrieben werden.