Nach dem Sturm: Demokratie ist nicht gratis
Wie sehr sich die beiden Ereignisse doch ähneln: Am Sonntag stürmten in Brasiliens Hauptstadt Tausende Fanatiker:innen den Sitz der Regierung, des Parlaments und des Obersten Gerichts. Fast auf den Tag genau zwei Jahre zuvor war es das Kapitol in Washington, das von rechten Antidemokrat:innen überrannt wurde. Beide Male zeigten sich die Sicherheitskräfte während Stunden heillos überfordert.
Beide Aktionen haben die Demokratie in den beiden Ländern vor eine Zerreissprobe gestellt. Sie waren gut vorbereitet, und sie folgten klaren Zielsetzungen: In den USA war die Erstürmung der Versuch, die offizielle Zertifizierung des Ergebnisses der Präsidentschaftswahl zu stoppen, einer Wahl, die der damals amtierende republikanische Präsident Donald Trump gegen den demokratischen Herausforderer Joe Biden klar verloren hatte. Mittlerweile wissen wir, dass nur knapp verhindert wurde, dass Vizepräsident Mike Pence und Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsentantenhauses, in die Hände des Mobs fielen. Wie der Untersuchungsbericht des Repräsentantenhauses vom Dezember 2022 zeigt, nahm Trump entscheidenden Einfluss bei der Anstachelung der Kapitol-Stürmer:innen.
In Brasilia nun sollte mit dem Lahmlegen der zentralsten Institutionen des Landes so viel Chaos produziert werden, dass rechte Militärs den frisch vereidigten Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva absetzen und selbst die Macht übernehmen könnten. So zumindest hatten es sich die selbsternannten Freiheitskämpfer:innen vorgestellt. Wer die Aktion massgeblich orchestrierte, wird Brasiliens Staatsanwaltschaft in den kommenden Wochen und Monaten zu ermitteln versuchen.
Wie in den USA ging der Aktion auch in Brasilien eine breit abgestützte Kampagne von rechts voraus. Bereits vor der Wahl wurden Zweifel an deren Korrektheit gestreut, anschliessend wurde sie bar jeden Beweises als gefälscht bezeichnet, als hätten die Bolsonarist:innen das trumpistische Skript als Vorlage genutzt. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung mögen die Tausenden Demokratiefeind:innen von Washington und Brasilia als kleine Gruppe erscheinen – aber in beiden Ländern sind Millionen Menschen gewillt, dem Schwindel der Expräsidenten zu glauben.
Sowohl der Trumpismus wie der Bolsonarismus stützen sich auf breite Koalitionen, die sich übergreifend als reaktionär bezeichnen lassen. In gesellschaftspolitischer Hinsicht lehnen sie jeden Fortschritt ab. Und so finden sich darunter religiöse Extremist:innen, Frauenfeinde, Rechtsradikale, Militarist:innen. Entscheidend für ihre politische Schlagkraft ist aber vor allem, dass die Strömungen in breiten Netzwerken aus Politik und Wirtschaft verankert sind: In Brasilien ist es unter anderem die einflussreiche Agroindustrie, die von der Abholzung des Amazonasregenwalds profitiert und deshalb das bolsonaristische Lager mitfinanziert. In den USA ist es vor allem die Öl-, Gas- und Kohleindustrie, die den Trumpismus stützt. Beide Präsidenten haben während ihrer Amtszeit den Klimaschutz verhöhnt und ihre klimafeindlichen Mäzen:innen hofiert.
Biden hat bislang eher bescheidene Reformen im Klimaschutz erwirkt, und ob Lula wie angekündigt die Abholzung des Amazonas stoppen kann, bleibt abzuwarten. Dennoch: Den Kapitalfraktionen ist selbst das schon viel zu bedrohlich. Ihr Geschäftsmodell ist in Gefahr. Sie kämpfen um Macht und Profitquellen – das Klima ist ihnen so egal, wie ihnen die Demokratie lästig ist.
Die rechten demokratiefeindlichen Bewegungen werden nicht verstummen. Die Verbindung zwischen rückwärtsgewandten Fanatiker:innen auf der Strasse, Scharfmacher:innen in den Parlamenten und mächtigen Grossindustriellen hat sich als enorm tragfähig erwiesen. Mehr denn je geht es nun darum, sich eine alte Erkenntnis in Erinnerung zu rufen: Demokratie ist nicht gratis, sie muss ständig neu erkämpft werden. Nicht nur gegen reaktionäre Pöbler:innen und politische Brandstifter:innen, sondern vor allem auch gegen die Interessen der Kapitalbesitzer:innen.