Grossraubtiere: Sind siebzehn Rudel genug?
Dass es eine Regulierung der Schweizer Wolfsbestände braucht, bestreitet heute kaum mehr jemand. Umstritten bleibt, wie das geschehen soll. Und eine grosse Frage ist ungeklärt: Hilft der Wolf dem Wald?
Der Wolf ist zurück. Und wie: Aktuell leben in der Schweiz 23 bis 25 Rudel, insgesamt etwa 200 Tiere. Wölfe breiten sich vor allem in Graubünden und im Wallis aus, aber auch im St. Galler Oberland, in Glarus und im Waadtländer Jura. Vor elf Jahren entstand das erste Rudel, vor fünf Jahren waren es vier – dann ging es schnell. Obwohl das Budget für den Herdenschutz mehrmals erhöht wurde, rissen Wölfe letztes Jahr erstmals über tausend Nutztiere, vor allem Schafe. Manchmal attackieren sie auch Rinder.
In der Wintersession hat der Nationalrat nun das Jagdgesetz geändert. Er folgte dabei dem Ständerat. Neu können Wölfe auch präventiv geschossen werden, um künftige Schäden zu verhindern.
Auf den ersten Blick schienen die Konfliktlinien wie immer: Links-Grün betonte, der Wolf sei wichtig für die Ökosysteme, und plädierte für einen Regulierungsvorschlag, hinter dem auch die Umweltverbände standen. Mitte-Rechts führte die Sorgen der Bauern und der Älplerinnen ins Feld – und setzte sich durch. Damit kann der Wolf künftig ähnlich wie der Steinbock im Herbst gejagt werden.
Doch der Minderheitsantrag, den die Umweltverbände unterstützten, stammte nicht von Links-Grün, sondern vom Aargauer FDP-Nationalrat Matthias Jauslin. Er wollte es ermöglichen, Wölfe das ganze Jahr zu schiessen, aber nur dort, wo sie Probleme machen, etwa mit Zäunen und Hunden geschützte Schafe reissen. «Wenn man den Wolf erziehen will, muss man ihn zur richtigen Zeit am richtigen Ort schiessen. Sonst lernen die Wölfe nichts.» Jauslin macht sich Sorgen um den Wolf: «Ich höre immer noch viele – auch Politiker –, die ihn ausrotten wollen.» Er fürchtet, dass mit dem «Steinbockmodell» die falschen Tiere geschossen werden. Dem Entscheid sei ein Powerplay der Bergkantone vorausgegangen.
Auch die grüne Berner Nationalrätin Christine Badertscher scherte aus. Sie unterstützte zuerst Jauslins Antrag, nahm in der Schlussabstimmung jedoch das «Steinbockmodell» an – im Gegensatz zu ihrer Fraktion. «Ich weiss von Älplern, welche riesigen Probleme der Wolf macht. Manche mussten letzten Sommer früher ins Tal zurück.» Die Arbeit auf der Alp sei ohnehin extrem streng. Wenn dann noch Wolfsangriffe dazukämen, bringe das viele an den Rand. «Herdenschutz ist wichtig, löst aber nicht alle Probleme.»
«Riskieren eine Eskalation»
Was sagen Fachleute, die sich intensiv mit dem Wolf beschäftigen? Urs Leugger-Eggimann, Geschäftsleiter von Pro Natura, ist enttäuscht. Wie Jauslin sagt er: «Wenn man eingreift, sollte man das zeitlich und räumlich möglichst nah beim Schaden tun.» Mit dem jetzigen Beschluss könnten auch Wölfe geschossen werden, die überhaupt keine Probleme machten. «Es gibt aber keinen Grund, den Wolf ohne Schadensbezug zu regulieren.» Die Population nehme zwar zurzeit stark zu, «das Wachstum wird aber abflachen und stoppen, wenn in allen geeigneten Territorien Rudel leben. So reguliert sich der Bestand selbst.» 2020 haben die Umweltverbände das Referendum gegen die Jagdgesetzrevision gewonnen, die den Wolfsschutz lockern wollte. Dieses Mal haben kleine Gruppen wie CH Wolf das Referendum ergriffen. Die grossen Umweltverbände unterstützen es nicht.
Eine Frage wird kontrovers diskutiert: Ist der Wolf im Alpenraum noch gefährdet? Wie gross muss eine überlebensfähige Population zwischen Wien und Nizza sein? Eine internationale Studie im Auftrag der Grossraubtierforschungsorganisation Kora kam vor sieben Jahren zum Schluss, dass in der Schweiz mindestens siebzehn Rudel leben müssten. Jetzt sind es schon über zwanzig – kein Wunder, dass Bergkantonsvertreter:innen die Studie gern zitieren. «Die siebzehn Rudel sind eine Minimalzahl, die jetzt als Maximalzahl verkauft wird», kontert Leugger. «Wir sollten keine Maximalzahl festlegen, sondern dort eingreifen, wo es Probleme gibt.»
Daniel Mettler begrüsst hingegen den Entscheid des Parlaments. Der ehemalige Schafhirt leitet seit bald zwei Jahrzehnten die Fachstelle Herdenschutz des Bundes. «Die Wolfspopulation wächst so stark, dass der Herdenschutz nicht mehr mitkommt.» Dass sich der Wolfsbestand langfristig selbst regulieren würde, wenn alle Reviere besetzt wären, räumt auch Mettler ein. «Aber wir leben nicht in der Wildnis. Wenn wir jetzt abwarten, riskieren wir eine Eskalation, noch viel mehr Risse. Und im Eskalationsmodus findet man keine Lösungen.»
Damit das Nebeneinander von Wolfsrudeln und Nutztierhaltung einigermassen funktioniere, sollte der Wolfsbestand nicht mehr stark wachsen, sagt Mettler. Darum befürwortet er das beschlossene «Steinbockmodell». «Wichtig ist, dass man sehr genau und professionell plant, welche Wölfe man abschiesst, und sich auf Rudel konzentriert, die viel Schaden anrichten.» Da die Wildhüter:innen für die Planung der Wolfsjagd zuständig seien, werde die Regulierung professionell ablaufen, ist Mettler überzeugt.
Nicht wie Yellowstone
Viele Forstfachleute sehen die Rückkehr des Wolfes positiv. Denn Rehe, Hirsche und Gämsen knabbern gern an jungen Bäumen und gefährden den Schutzwald. Und in der Schweiz leben immer mehr Rothirsche – mittlerweile fast 40 000. «Der Wolf jagt dieses Schalenwild und hilft so dem Wald», sagt Urs Leugger. Mit dem Nutzen des Wolfes für den Wald argumentierten auch Grüne wie Bastien Girod im Parlament.
Ralph Manz, Wolfsspezialist bei Kora und von Beruf Förster, ist skeptisch. «Es gibt Studien aus grossen Nationalpärken wie Yellowstone in den USA oder Bialowieźa in Polen, die zeigen, dass Wolfsrudel Schalenwildbestände und damit auch Bäume und Sträucher beeinflussen. Diese Studien wurden aber in Lebensräumen ohne menschlichen Einfluss gemacht.» Deshalb liessen sich die Ergebnisse nicht auf Kulturlandschaften wie die Alpen übertragen, wo sich der menschliche Einfluss und jener der Wölfe überlagerten. «Aussagekräftige Studien zu diesem komplexen Thema sind sehr aufwendig. Die Wissenschaft ist daran, aber für Resultate ist es zu früh.»
«Die Gleichung ‹Wolf = weniger Wild = weniger Verbiss› trifft nur bedingt zu», schreibt auch die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft. «Jäger dürften in der Schweiz mindestens während der Jagdsaison einen deutlich stärkeren direkten und indirekten Einfluss auf die wild lebenden Huftiere haben als Wölfe.» Leugger sagt: «Aber es gibt Erfahrungswissen. Er sehe wieder mehr junge Weisstannen, hat mir ein Förster aus der Surselva erzählt.»
Bei allen Kontroversen – in einem wichtigen Punkt sind sich die Beteiligten nähergekommen: Auch die grossen Umweltverbände bekämpfen die Regulierung der Wolfsbestände nicht mehr grundsätzlich; gestritten wird über das Wie. Und fast allen ist klar: Einfache Lösungen gibt es nicht. «Es ist wichtig, dass wir die Betroffenen unterstützen», betont Leugger. «Niemand soll sich mit den Herausforderungen rund um den Wolf allein gelassen fühlen.»
Und Daniel Mettler sagt: «Auch mit der Regulierung hören die Konflikte nicht auf. Die Wölfe gehen dorthin, wo es ihnen gefällt.» Er plädiert für einen nüchternen Umgang mit dem umstrittenen Tier: «Wir sollten den Wolf weder idealisieren noch dämonisieren. Beides hilft nicht weiter. Wir sollten ihn hegen und pflegen wie andere Wildtiere auch. Dazu gehört auch die Regulierung.»