Jagdgesetz-Abstimmung: Der Wolf hat Platz – und das Schaf?
Beim neuen Jagdgesetz scheinen die Fronten klar: Bürgerliche und Rechte sind dafür, Linksgrüne und Umweltverbände dagegen. Naturverbundene PraktikerInnen aus Jagd, Landwirtschaft und Herdenschutz stehen in der Debatte allerdings quer.
Nicole Imesch liebt wilde Landschaften. Sie hat dem Kanton Bern zwei Hektaren Wald abgekauft, damit das Sturmholz liegen bleiben kann. Seltene Käfer, Spechte und Baummarder sollen darin Platz zum Leben finden. Die Biologin, Hirschspezialistin und Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Wildtierbiologie bietet Dienstleistungen im Wald-Wild-Management und in der Jagdplanung an. Imesch lebt im kleinen Dorf Linden zwischen Emmen- und Aaretal, liest die WOZ und hegt auch eine gewisse Faszination für den Wolf. Aber sie befürwortet das neue Jagdgesetz – anders als die Umweltverbände, die dagegen das Referendum ergriffen haben.
Die Vorlage, die am 27. September zur Abstimmung kommt, polarisiert. Das Gesetz sei fortschrittlich und fördere die Artenvielfalt, sagen die BefürworterInnen. Das Referendumskomitee spricht dagegen von einem «missratenen Abschussgesetz».
«Die positiven Aspekte überwiegen»
Imesch versteht die Kritik: «Bisher war der Bund für die geschützten Arten zuständig.» Mit dem neuen Gesetz erhielten die Kantone bei ihnen mehr Kompetenzen, und das halte sie für problematisch: «Der Druck der Bevölkerung auf kantonale Jagdverwaltungen kann gross sein, besonders wenn Wolfsabschüsse gefordert werden.» Wie die Umweltverbände kritisiert Imesch auch, dass einige bedrohte Arten weiterhin jagdbar bleiben, etwa Schneehuhn und Schneehase: «Sie sind durch die Klimaerwärmung schon stark unter Druck, warum muss man sie noch jagen?»
Nach der Nationalratsdebatte zum Gesetz im Herbst 2019 war Imeschs Haltung eher ablehnend. «Aber seit ich die Verordnung gelesen habe, muss ich sagen: Die positiven Aspekte überwiegen.» Als positiv beurteilt sie am Gesetz, dass es mehr Geld für Wildtierschutzgebiete und -korridore gibt und dass NutztierhalterInnen nur noch Entschädigungen für vom Wolf gerissene Schafe und Ziegen erhalten, wenn sie diese mit soliden Zäunen und, wenn das nicht reicht, zusätzlich mit Hunden schützen. Noch mehr Positives findet Imesch in der Verordnung, die zurzeit in der Vernehmlassung ist: Die Verwendung von Bleimunition wird eingeschränkt, die fachlich unsinnige Wildtierfütterung verboten, und JägerInnen müssen neu jährlich zum Treffsicherheitsnachweis. Ausserdem müssen die Kantone bei regional seltenen jagdbaren Arten dokumentieren, wie sich die Bestände entwickeln, und allenfalls die Jagd einstellen.
Das Jagdgesetz ist nicht einfach ein Wolfsgesetz – aber die wohl grösste Änderung betrifft das Grossraubtier: Das Gesetz soll es möglich machen, Wolfsrudel präventiv zu regulieren, auch wenn sie (noch) keinen Schaden angerichtet haben. «Die Kantone können aber nicht einfach Wölfe abschiessen, wie sie wollen», betont Nicole Imesch. «Sie müssen nachweisen, dass ein Rudel da ist, das sich fortgepflanzt hat, und dürfen höchstens die Hälfte der Jungtiere dieses Rudels töten. So wird die Ausbreitung der Wölfe verlangsamt, aber nicht gestoppt.»
Viele WolfsgegnerInnen hofften, mit dem neuen Jagdgesetz den Wolf wieder loszuwerden, sagt Imesch. Das sei eine Illusion: Der Wolf reproduziere sich hierzulande gerade sehr schnell. «Um Konflikte zu entschärfen, finde ich es sinnvoll, dass man die Bestände in unserer stark genutzten Kulturlandschaft regulieren kann. Wenn ich Angst hätte, dass das Jagdgesetz den Wolfsbestand in der Schweiz gefährdet, würde ich nicht Ja stimmen.»
Tatsächlich ist der Wolf im Hoch: Die Bestände wachsen so rasant wie noch nie. Die Stiftung Kora, die im Auftrag des Bundes die Grossraubtiere der Schweiz erforscht und überwacht, schätzt, dass aktuell achtzig bis hundert Wölfe in der Schweiz leben. Nachdem letztes Jahr acht Wolfsrudel nachgewiesen worden waren, sind dieses Jahr in Graubünden gleich zwei neue dazugekommen. Damit leben im Bergkanton allein sechs Rudel, zwei im Wallis, eins im Tessin und eins im Waadtländer Jura. Im Kanton Graubünden häufen sich die Meldungen über Wölfe, die Mutterkuhherden in Panik versetzen. Im August wurden in Graubünden vermutlich zwei Kälber von Wölfen gerissen – die DNA-Nachweise stehen noch aus.
Von Rudeln umzingelt
Als Simon und Anita Buchli vor neun Jahren den Biohof von Simons Eltern im Bündner Safiental übernahmen, wagten sie einen ungewöhnlichen Schritt: Sie stellten von Kuh- auf Schafhaltung um. Dass sie die Schafe mit Herdenschutzhunden würden schützen müssen, war ihnen klar: Schon damals streiften Wölfe durch Graubünden. Aber dass sie sich so schnell vermehren würden, haben sie nicht erwartet: «Wir rechneten mit Einzelwölfen. Nun sind wir von Rudeln umzingelt.»
Buchlis halten um die hundert Muttertiere der seltenen, robusten Rasse Spiegelschaf. Bisher blieben sie von Wolfsangriffen verschont, auch auf der Alp zuhinterst im Safiental, wo die Schafe den Sommer verbringen. Elektrozäune unterstützen die Herdenschutzhunde bei ihrer Arbeit. «Aber seit wir Wolfsrudel in der Region haben, wird der Herdenschutz immer anspruchsvoller», sagt Agronom Buchli. Es brauche mehr Hunde, damit entstehe eine Rudeldynamik: Manchmal kämpften die Hunde miteinander, vor allem im Winter im Stall. «Wir mussten auch schon den Tierarzt holen. Wir müssen lernen, das komplexe System Wolfsrudel, Hunderudel, Schafherde und Mensch besser zu verstehen und damit umzugehen.»
Wären die Schafe noch sicherer, wenn HirtInnen auf die Herde aufpassen würden? Nicht unbedingt, sagt Simon Buchli: Auch ständiges Hüten sei nicht ohne Risiken. «In letzter Zeit haben Wölfe in der Region mehrmals Schafe gerissen, wenn es Hirten nicht schafften, sie alle vor dem Eindunkeln in den Nachtpferch zu bringen.» Die Belastung für die Hirten sei extrem, das ständige Pferchen entspreche zudem kaum dem natürlichen Bewegungsablauf der Schafe.
Buchli stimmt Ja zum neuen Jagdgesetz. Allerdings macht er sich keine Illusionen: «An unserer täglichen Arbeit ändert sich nichts. Aber mit der einfacheren Regulierung haben wir ein Mittel mehr, um die Wölfe in Grenzen zu halten und ihr Verhalten so zu beeinflussen, dass sie die Herdenschutzmassnahmen etwas länger respektieren.» Die Erfahrung zeige, dass der Abschuss von Jungtieren ein Rudel scheuer mache. Dass der Wolf Platz habe in der Schweiz, sei für ihn keine Frage, sagt der Bündner. «Ich frage mich manchmal mehr: Hat das Schaf noch Platz?»
Für den Stadt-Land-Frieden
Ralph Manz sitzt in einem Berner Café und rechnet. «In Frankreich, Italien und der Schweiz leben aktuell mindestens 150 Rudel. In jedem Rudel kommen etwa drei Welpen pro Jahr auf die Welt – macht 450. Die Hälfte davon überlebt das erste Lebensjahr nicht. Trotzdem bleiben noch mindestens 200 Jungwölfe, die abwandern, ein neues Territorium suchen und ein neues Rudel gründen.» Manz arbeitet im Wolfsmonitoring bei Kora. Als ausgebildeter Förster, Freizeitjäger und ehemaliger Geschäftsführer des WWF Oberwallis ist er heftige Wolfsdiskussionen gewohnt. Das Fazit seiner Rechnung? «Am Herdenschutz führt kein Weg vorbei!»
«An regelmässigen Abschüssen aber auch nicht», erwidert Daniel Mettler, der am gleichen Tisch sitzt. «In Frankreich hat man zu spät damit begonnen, und die Situation ist völlig entgleist.» Der studierte Philosoph war selbst Schafhirt und arbeitet seit über fünfzehn Jahren als Herdenschutzspezialist bei der landwirtschaftlichen Beratungsstelle Agridea. Manz und Mettler haben oft miteinander zu tun – und sind sich nicht immer einig. Mettler befürwortet das Jagdgesetz. Dass der Herdenschutz künftig Voraussetzung sein soll, um eine Entschädigung für gerissene Nutztiere zu erhalten, überzeugt ihn: «Das wird den Herdenschutz stärken.»
Manz ist da nicht so sicher: «Es gibt Gebiete, da will man kein Geld für tote Schafe, sondern tote Wölfe! Dass mit dem neuen Gesetz der Bestand schon reguliert werden kann, bevor er Schaden angerichtet hat, wird den Herdenschutz schwächen.» Wie Imesch befürchtet er, dass die kantonalen Behörden sehr unter Druck kommen könnten, Abschüsse zu bewilligen, die den Kriterien des Bundes nicht entsprechen. «Das Bundesamt für Umwelt und die Umweltverbände werden den Kantonen sehr genau auf die Finger schauen müssen.»
Mettlers Hauptargument ist ein soziologisches: «Für den Stadt-Land-Frieden wäre ein Ja wichtig, denn Ohnmacht ist etwas vom Schlimmsten und kann die Leute in die Illegalität treiben.» Bei einem Nein würde darum die Arbeit für vermittelnde Stellen wie Agridea und Kora noch schwieriger, schätzt Mettler. «Ja, es ist wichtig, den Menschen im Berggebiet ein positives Zeichen zu geben», meint auch Manz. «Man darf die Gesetzesrevision nicht nur aus der Sicht derjenigen anschauen, die am liebsten keine Wölfe hätten. Aber die Kantone werden eine sehr hohe Verantwortung für die Umsetzung haben.»
Dass der Wolfsbestand reguliert wird, steht für Manz und Mettler ausser Frage – die Zahlen sprechen für sich. «Um den Wolf mache ich mir wenig Sorgen», sagt Manz. «Um den Luchs hingegen schon. Hier ist man auf eine Erhöhung der genetischen Vielfalt angewiesen.» Zu diesem Zweck soll es gemäss der Verordnung zum neuen Gesetz möglich sein, Luchse auszusetzen. «Das begrüsse ich», betont Manz.
Abstimmungskampf : Droht Biber und Luchs der Abschuss?
Luchs und Biber im Fadenkreuz: Mit diesen Sujets wirbt das Referendumskomitee für ein Nein zum Jagdgesetz. Es schreibt: «Geschützte Tierarten können vom Bundesrat jederzeit auf die Liste der regulierbaren Arten gesetzt werden, ohne dass das Volk oder das Parlament etwas dazu sagen können.» Der Abschuss drohe etwa Biber, Luchs, Fischotter, Graureiher oder Höckerschwan. Stimmt das?
Wildtiere sind in der Schweiz entweder als jagdbar oder als geschützt eingestuft. Schon heute kann der Bundesrat geschützte Arten für regulierbar erklären – und zwar alle –, wenn diese grosse Schäden oder eine erhebliche Gefährdung verursacht haben. Mit dem neuen Jagdgesetz sollen Bestandesregulierungen möglich sein, bevor sich die Konflikte zuspitzen. Dafür sind gemäss Verordnungsentwurf nur noch Wolf, Steinbock und Höckerschwan regulierbar.
Der Bundesrat könnte gemäss dem neuen Gesetz zwar weitere geschützte Arten für regulierbar erklären, wenn dies «aus sachlichen Gründen» erforderlich wäre. Das Parlament hat eine Regulierung von Luchs, Biber, Graureiher und Gänsesäger allerdings explizit abgelehnt, der Bundesrat hat sich ebenfalls dagegen ausgesprochen.
Es stimmt also, dass der Bundesrat mit dem neuen Jagdgesetz das Recht hätte, Luchs oder Biber für regulierbar zu erklären – wie (nach grossen Schäden) bereits jetzt. Aber es ist nicht zu erwarten, dass das geschieht – bei beiden Tieren gibt es keine sachlichen Gründe dafür. Zudem kann der Bundesrat heute geschützte Arten sogar für jagdbar erklären, «sofern die Bestände (…) die Jagd wieder zulassen».
Das ist mit dem neuen Gesetz nicht mehr möglich.
Bettina Dyttrich