Selbstverwaltung in Rojava: Einmalige Chance auf ein friedliches Leben
In Nordostsyrien entwickeln sich neue politische und gesellschaftliche Strukturen – wobei neben Kurd:innen auch syrische Christ:innen ihre Visionen einbringen. Und das aus guten Gründen.
Nur wenige Meter vom zentralen Markt entfernt fängt in Kamischli das christliche Viertel an. Wie auf einer Perlenkette aneinandergereiht stehen hier, mitten in der nordostsyrischen Grossstadt, die Kirchen unterschiedlicher Konfessionen Seite an Seite: die armenisch-orthodoxe, die syrisch-orthodoxe, eine katholische und mehrere protestantische. Auch wenn Kamischli muslimisch dominiert ist, hat es seit jeher eine grosse christliche Minderheit. Bis 1992 hatte die Stadt auch eine jüdische Gemeinde, nach Jahrzehnten der Diskriminierung der syrischen Jüd:innen durch die Regierung war es noch eine der letzten im Land.
Kamischli gehört zu den grössten Städten in der «Autonomen Selbstverwaltung von Nordostsyrien». Die Region – im Westen vor allem bekannt unter dem kurdischen Namen Rojava – gehört noch immer zum syrischen Staat, ihre Autonomie ist völkerrechtlich nicht anerkannt. Aber bereits im Juli 2012, als es in den drei Kantonen Afrin, Kobanê und Dschasira mitten im Bürgerkrieg zur «Rojava-Revolution» kam, begann der Aufbau der Selbstverwaltungsstrukturen. So entsteht seit rund zehn Jahren ein System, das sich auf die Grundpfeiler Basisdemokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Ökologie stützt.
Viele Christ:innen fürchten sich vor der Rache Assads oder Erdoğans.
Das heisst etwa, dass Posten innerhalb der Selbstverwaltung stets gleichzeitig an einen Mann und eine Frau zu vergeben sind; dass es mit Kurdisch, Arabisch und Aramäisch drei Amtssprachen gibt; und dass ethnischen Minderheiten feste Quoten in Regierungsämtern zustehen. Die Autonome Region hat Kommunalverwaltungen und ein eigenes föderales Regierungssystem entwickelt – weitgehend unabhängig von der syrischen Hauptstadt Damaskus, die fast 600 Kilometer entfernt südwestlich von Kamischli liegt.
«Gerade beenden wir die Arbeiten an unserem neuen Gesellschaftsvertrag», sagt Berivan Khaled bei einem Treffen in ihrem Büro in Kamischli. Sie ist Kovorsitzende des Exekutivrats der Selbstverwaltung und damit so etwas wie Regierungschefin. «Alle Ethnien und Religionen sollen in Nordostsyrien eine Stimme haben und sich einbringen können», so Khaled, die selbst Kurdin ist. Mit einer Abspaltung von Syrien habe das alles nichts zu tun, betont sie; die Selbstverwaltung will nicht in den Verdacht geraten, einen eigenen kurdisch dominierten Staat gründen zu wollen. «Wir betrachten das föderale System als Modell für ein demokratisches Syrien», so Khaled. Der syrische Bürgerkrieg habe Konflikte um Glauben und Herkunft vielerorts aufgerissen und vertieft. Die Selbstverwaltung versuche, dies durch Dialog zu lösen.
Eine der ältesten Sprachen der Welt
Ginge es nach dem Willen von Diktator Baschar al-Assad und des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, wäre die Selbstverwaltung aber bereits Geschichte. Assad kündigte an, «jeden Zentimeter Syriens» zurückzerobern. Und die Türkei, deren Grenze zu Syrien unmittelbar nördlich von Kamischli liegt, hält diejenigen Kräfte, die die Selbstverwaltung organisieren, für einen Ableger der PKK, der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans. Auch medial wird oft das Bild vermittelt, die Selbstverwaltung sei vor allem kurdisch geprägt.
«Die Selbstverwaltung ist ein Projekt unterschiedlicher Gruppen», versichert aber Sanharib Barsom. Er ist Kovorsitzender der Assyrischen Partei der Einheit, die die Interessen der Suryoye vertritt, einer christlichen Volksgruppe, die Aramäisch spricht, eine der ältesten Sprachen der Welt. Die Suryoye verstehen sich als die «ersten Christ:innen», sie sind seit jeher im biblischen Stammland Syrien beheimatet. «Auf unsere Gruppe geht sogar der Name Syrien zurück», sagt Barsom mit ein wenig Stolz. Das Gespräch findet online statt, er hält sich gerade in Brüssel auf.
Bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 war Syrien im Nahen Osten nach Ägypten das Land mit der zweitgrössten christlichen Minderheit. Eine Einheit haben die zwei Millionen syrischen Christ:innen unterschiedlicher Konfessionen aber kaum gebildet, und das Erstarken dschihadistischer Gruppen im Verlauf des Bürgerkriegs setzte alle einer erhöhten Gefahr aus. Viele flohen, viele wurden ermordet. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber gemäss Schätzungen leben heute nur noch etwa 400 000 Christ:innen in ganz Syrien. Für sie ist die Frage nach der künftigen gesellschaftlichen Ordnung des Landes eine existenzielle.
So überrascht es kaum, dass sich mehr und mehr von ihnen aktiv am Aufbau der Autonomen Selbstverwaltung beteiligen. Die bereits 2005 in Kamischli gegründete Assyrische Partei der Einheit habe sich von Beginn an für das Projekt eingesetzt, sagt Sanharib Barsom. «Wir hatten damals Visionäre in unseren Reihen, die zusammen mit Kurden und Arabern etwas gewagt haben, was es zuvor nicht gegeben hat: den Aufbau eines gemeinsamen, multiethnischen und föderalen Systems», so der Politiker.
Eine christliche Polizei
In gewisser Hinsicht ist die Vision tatsächlich Realität geworden: In Nordostsyrien herrschen Glaubens- und Religionsfreiheit, die Suryoye werden sprachlich und kulturell anerkannt, christliche Gottesdienste finden statt, es gibt Schulunterricht in aramäischer Sprache. Bereits 2013 wurde zudem der Assyrische Militärrat gegründet, eine christliche Miliz, die in Nordostsyriens multiethnischer Militärallianz SDF (Syrische Demokratische Kräfte) organisiert ist. Hinzu kommen die Sutoro, eine christliche Polizei. «Wir haben gemeinsam die Selbstverwaltung aufgebaut und sie auch gemeinsam gegen innere und äussere Gegner selbst verteidigt», sagt Barsom. «Darum können wir Christen nun in unserer Heimat Syrien bleiben.»
Unter den Christ:innen gibt es aber noch immer auch jene, die das Regime in Damaskus unterstützen und der Selbstverwaltung kritisch gegenüberstehen. Das ist auch im christlichen Viertel Kamischlis zu erkennen, wo teils entlang ganzer Strassenzüge Flaggen an Fenstern und Balkonen die Loyalität zu Baschar al-Assad bezeugen. Mit der Sootoro wurde sogar eine eigene, regimefreundliche Miliz gegründet, die optisch praktisch genau wie die Sutoro daherkommt. Viele Christ:innen fürchten die Rache des Regimes oder der Türkei, sollten sie mit der Selbstverwaltung zusammenarbeiten.
«Unter dem Assad-Regime hatten wir auch keine Rechte und wurden unterdrückt», erinnert sich jedoch Tony Vergili, der sich dem Videogespräch mit Barsom zugeschaltet hat. Vergili kam 1992 aus Nordostsyrien nach Europa, heute lebt und arbeitet er in Brüssel. Dort hat er 2004 auch die European Syriac Union gegründet, den Dachverband der Suryoye in Europa. Er repräsentiert damit auch die rund 15 000 Suryoye, die in der Schweiz leben.
Es liege auch im Eigeninteresse Europas, die Stellung der Christ:innen im Nahen Osten zu stärken, ist Vergili überzeugt. «Wir können der Vermittler zwischen Orient und Okzident sein.» Und er wehrt sich gegen die Darstellung der türkischen Regierung, wonach in der nordostsyrischen Selbstverwaltung nur Kurd:innen oder gar PKK-Mitglieder aktiv seien. «Wir sind das eindeutig nicht», sagt Vergili und kündigt an, dass sich die Suryoye weiterhin für die Selbstverwaltung einsetzen würden, sowohl gesellschaftlich als auch militärisch. Diese bilde derzeit schliesslich die einzige Möglichkeit, im Nahen Osten friedlich zu leben. «Wir wissen um diese einmalige Chance», sagt Vergili. «Diese wollen und werden wir nutzen.»