Luftangriffe auf Rojava: Zum Abschuss freigegeben

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Seit Monaten bombardiert die türkische Luftwaffe die Infrastruktur in den benachbarten kurdischen Gebieten. Die internationale Gemeinschaft interessiert sich kaum für diesen Krieg.

türkischer Angriff am 15. Januar auf Kamischli in Nordostsyrien
«Wenn wir unsere Häuser verlassen, wissen wir nie, ob wir unsere Kinder wiedersehen werden»: Türkischer Angriff am 15. Januar auf Kamischli in Nordostsyrien. Foto: Ahmed Mardnli, Keystone

Als Ende Dezember die türkischen Flugzeuge ihre Bomben abwarfen, floh der Kurde Samir al-Dschamah mit seiner Familie aus seinem Haus in Kamischli. Sie versteckten sich mehrere Stunden, während das Militär zahlreiche Ziele in Nordostsyrien angriff. Dschamah und seine Familie blieben äusserlich unversehrt, doch die Angriffe hinterliessen seelische Spuren. «Es war der Horror. Wir erleben eine schreckliche Zeit», sagt der Inhaber eines Telefonladens. Seine kleine Tochter spricht seitdem kaum noch.

Mit Kampfflugzeugen und Drohnen griff die Armee mehrere Städte in der kurdisch geprägten Region an, die auch unter dem Namen Rojava bekannt ist. Unter anderem nahm sie dabei in Kamischli zwei Lebensmittelfabriken und das Elektrizitätswerk ins Visier, in Kobane eine Dialysestation. Nach Angaben der lokalen Verwaltung kamen dabei zehn Menschen ums Leben, Dutzende wurden verletzt. Bereits im Oktober zerstörte die Türkei mit grossflächigen Bombardierungen vor allem Einrichtungen der Wasser- und Energieversorgung entlang der türkisch-syrischen Grenze. Das Ziel sei die Infrastruktur, klagt die kurdische Selbstverwaltung in Rojava.

«Viele Menschen sind jetzt ohne Arbeit, weil die Türkei ihren Arbeitsplatz ins Visier genommen hat», sagt Dschamah, dessen Alltag noch immer vom Konflikt geprägt ist. Denn die Kurd:innen in der Region werden fast täglich aus der Luft bedroht. Das Rojava Information Center zählte im vergangenen Jahr 198 Drohnenangriffe, bei denen insgesamt 105 Menschen getötet und 123 verletzt worden sein sollen. «Wenn wir unsere Häuser verlassen, wissen wir nie, ob wir unsere Kinder wiedersehen werden», sagt Dschamah.

Erdoğans Ziele

Die Angriffe auf die Infrastruktur sind kein Zufall. Im Oktober gab der türkische Aussenminister Hakan Fidan zivile Ziele in Nordostsyrien und dem benachbarten, ebenfalls von Kurd:innen dominierten Nordirak zum Abschuss frei. Die Rechtfertigung damals war ein Anschlag auf das Innenministerium in Ankara, zu dem sich die verbotene kurdische Arbeiterpartei (PKK) bekannte. Die neuerlichen Bombardierungen begründete Ankara mit Vergeltung für die Angriffe der PKK auf ihre Soldaten im Nordirak.

Ankara zielt auf eine Destabilisierung der kurdisch geprägten Region. Im Verlauf des seit 2011 andauernden Bürgerkriegs in Syrien gab das Regime des Diktators Baschar al-Assad in Damaskus die Kontrolle über den Norden zunehmend auf. In die Lücke stiessen kurdische Kräfte, die eine Übergangsverwaltung aufstellten, die seit 2016 unter dem Namen Autonome Föderation Nordsyrien besteht. Dominante Kraft ist dabei die Partei der Demokratischen Union (PYD), die 2003 auf Beschluss der PKK gegründet wurde.

International ist die Autonomieregion Rojava mit fünf Millionen Einwohner:innen nicht anerkannt, aber ihr Militärbündnis Syrische Demokratische Kräfte (SDF) arbeitete im Kampf gegen den Islamischen Staat eng mit den USA zusammen. Zugleich attackiert die Türkei seit Jahren die Autonomiebestrebungen nebenan, von der sie eine Sogwirkung auf die eigene kurdische Bevölkerung im Land befürchtet. Seit 2018 hält Ankara die westlichste der drei Regionen von Rojava besetzt und brachte vor zwei Jahren mit der stillen Unterstützung Russlands weitere Territorien im Norden von Rojava unter seine Kontrolle. Die eroberten Gebiete will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mehrfach nutzen. Mit der Ansiedlung von in der Türkei lebenden Syrer:innen will er die Zahl der Geflüchteten im eigenen Land senken und den Einfluss der kurdischen Mehrheitsbevölkerung in Nordsyrien untergraben.

Neue Zweckbündnisse

Die Menschen in Rojava fühlen sich angesichts der erneuten Eskalation im Stich gelassen. «Die Türkei zerstört unsere Infrastruktur, und die ganze Welt ignoriert es», sagt der ebenfalls in Kamischli lebende Student Hassan Otman. Ob Lebensmittel oder Treibstoff, einfach alles werde immer knapper. Die Bevölkerung werde angesichts der immer zahlreicheren Konflikte im Nahen und Mittleren Osten zum «Spielball der Geopolitik», beklagt Otman.

Tatsächlich sind in der Region mehrere internationale Kräfte auf einen Konfrontationskurs mit Washington aus. Sie ringen um eine Rolle als Regionalmacht und wollen deshalb die US-Truppen hinausdrängen. «Was haben die Amerikaner in Syrien zu suchen?», kritisierte Erdoğan seinen Nato-Verbündeten, nachdem im Oktober die in Syrien stationierten US-Truppen eine türkische Drohne abgeschossen hatten. Den Wunsch einer Vertreibung des US-Militärs teilt Erdoğan mit den beiden Schutzmächten des syrischen Regimes, dem Iran und Russland. Aus diesem Grund griff das türkische Militär Mitte Januar erneut mehr als achtzig Ziele in Syrien an, mehr als zwei Millionen Menschen sind seitdem ohne Strom und Wasser. Parallel dazu schoss der Iran mit Raketen auf die kurdischen Gebiete im Irak und in Syrien.

Für die Menschen in Rojava herrscht permanenter Ausnahmezustand. «Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich von Tag zu Tag», sagt Dschamah. «Niemand wagt es, in diesem Gebiet ein Geschäft zu eröffnen oder ein berufliches Projekt zu starten, denn es kann jederzeit von einer Drohne plattgemacht werden.»