Übersterblichkeit: Wieso sterben mehr Menschen?

Nr. 4 –

Seit Monaten verzeichnet die Schweiz zu viele Tote. Mit Corona allein ist das nicht hinreichend zu erklären. Hat das System Spital seine Belastungsgrenzen überschritten?

Weshalb sterben in der Schweiz seit Monaten mehr Menschen als statistisch erwartbar? Die anhaltende Übersterblichkeit macht zunächst deutlich, dass die Pandemie und ihre Folgen uns noch länger begleiten dürften. Und ein Blick zurück zeigt, dass diese auch wegen der grossen Übersterblichkeit in die Geschichte eingehen wird: Seit nationalem Messbeginn in den 1870er Jahren war diese nur während der «Spanischen Grippe» 1918 höher als im Coronajahr 2020, und sie ging auch 2022 nur wenig zurück. Doch das mit der Messung ist so eine Sache.

Übersterblichkeit ist ein komplexes Phänomen. Das Mortalitätsmonitoring des Bundesamts für Statistik (BFS) weist sie als wöchentliche Anzahl Todesfälle über dem zur jeweiligen Jahreszeit erwartbaren Wert aus, getrennt nach über und unter 65-Jährigen. Dieser erwartbare Wert ist indes nur eine Schätzung, die auf der Entwicklung der vergangenen fünf Jahre beruht. Entsprechend ist auch die Übersterblichkeit kein absoluter, sondern ein geschätzter Wert. Als Monitoring funktioniert er für «normale Zeiten» insofern, als sich Ausschläge rasch erkennen lassen und Massnahmen ergriffen werden können, zum Beispiel während einer sommerlichen Hitzewelle.

Neue Erkenntnisse aus Singapur

Mit dem Ausbruch von Corona hingegen verlor dieses System seine Aussagekraft. Die enorm hohe Zahl covidbedingter Todesfälle im Messjahr 2020 hätte den erwartbaren Wert für 2021 so stark nach oben verschoben, dass die Übersterblichkeit realitätsfern niedrig gewesen wäre. Also schloss es das BFS einfach aus. Für 2022 entwickelte es dann eine Berechnungsmethode, die die Übersterblichkeit während der Pandemiejahre 2020 und 2021 berücksichtigte. Allerdings nur für die Gruppe der über 65-Jährigen.

Offiziell lag die Übersterblichkeit 2022 bei zehn Prozent – bezogen auf die Gesamtbevölkerung. Schaut man hingegen nur die über 65-Jährigen an, so erreichte sie übers ganze Jahr hinweg immer in mindestens einer Landesregion einen Wert zwischen 16 und 47 Prozent. 2022 starben also sehr viel mehr ältere Menschen, als erwartbar gewesen wäre.

Über die Ursachen wird aktuell spekuliert, Corona scheint immer noch eine zentrale Rolle zu spielen: Die Höhe der Übersterblichkeit jedenfalls korreliert mit den Infektionszahlen. Und gerade vulnerable Personen, zu denen die über 65-Jährigen zählen, scheinen in den ersten Monaten nach einer Infektion geschwächt und sterben eher. Zu diesem Schluss kam Tanja Stadler, die das neu geschaffene wissenschaftliche Beratungsgremium für die Covid-Pandemie leitet, Ende Dezember aufgrund von Daten aus Singapur. Diese zeigen, dass sich die Übersterblichkeit dort allein auf Personen konzentrierte, die in den drei Monaten davor positiv auf Corona getestet worden waren.

Spitäler am Anschlag

In einer Pandemiekrise gerät ein Gesundheitssystem an seine Grenzen – und das, so der Historiker Kaspar Staub vom Institut für Evolutionäre Medizin der Universität Zürich, «spielt eine wichtige Rolle für die Übersterblichkeit». Eine Studie des Schweizer Gesundheitsobservatoriums vom September hat untersucht, wie sich die Covid-Pandemie auf die Gesundheitsversorgung in den Spitälern ausgewirkt hatte. Während des Lockdowns im Frühling 2020, als medizinisch nicht dringend angezeigte Untersuchungen und Behandlungen verboten waren, gingen die stationären Fallzahlen im Vergleich zum Vorjahr um fast ein Drittel zurück, selbst bei Schlaganfällen (minus 14 Prozent), Tumoren (minus 16 Prozent) und Herzinfarkten (je nach Schweregrad minus 9 respektive 26 Prozent). Die Mortalitätsrate stieg in sämtlichen Bereichen an.

Pikanterweise holten die Spitäler verschobene Operationen bis Ende Jahr nur ungenügend nach: 2020 fanden rund sechs Prozent weniger Eingriffe als 2019 statt, es wurden also über 72 000 Patient:innen weniger behandelt. Was die verzögerten Behandlungen und der Verzicht auf Vorsorgeuntersuchungen und Eingriffe längerfristig bedeuteten, müsse erst noch untersucht werden, bilanzierte die Studie.

Fragen darf man trotzdem: Ist die seit Monaten andauernde Übersterblichkeit auch Ausdruck eines Gesundheitssystems, das an seinen Belastungsgrenzen funktioniert? Oder diese gar überschritten hat? Schon vor Corona, das zeigt eine jüngst veröffentlichte Studie unter der Leitung des Basler Pflegeforschers Michael Simon, stieg je nach Spitalgrösse bereits ab einer Bettenauslastung von 42 Prozent die Sterblichkeitsrate an, und zwar bereits am ersten Tag um zwei Prozent.

Um die Auslastungsgrenze eines Spitals zu ermitteln, haben Simon und sein Team mit BFS-Daten von über 1,1 Millionen Spitalpatient:innen aus den Jahren 2012 bis 2017 gearbeitet und für die Berechnung eine Vielzahl an Variablen berücksichtigt, darunter für jede Person nebst Alter, Geschlecht und Diagnose auch Begleiterkrankungen oder wie kritisch ihr Zustand während des Aufenthalts war. Für jedes Spital ermittelten sie ausserdem die tägliche Bettenbelegung und die Patient:innenfluktuation, unterschieden auch zwischen Wochentag und Wochenende. «Je stärker die Bettenauslastung schwankt», fasst Simon den Kausalzusammenhang, «desto stärker ruckelt das Gesamtsystem Spital.» In Unikliniken und grossen Spitälern ist die Auslastung relativ stabil und der Schwellenwert, ab dem das Sterberisiko steigt, entsprechend hoch; in kleinen Spitälern dagegen schwankt dieser Schwellenwert zwischen 42 und 91 Prozent.

«Niemand muss deswegen Angst haben, ins Spital zu gehen», betont der Forscher, der selber Pflegefachmann ist. «Aber die Pandemie wirkt wie ein Brennglas auf die Phänomene, die wir im System Spital untersucht haben: Sie verstärkt das Problem der Kapazitätsgrenzen und ihrer Folgen.»

Vorbild Dänemark?

Die Pandemie, ist Simon überzeugt, hat eine demografische Entwicklung vorgezogen, die das Spitalsystem aktuell an seine Grenzen bringt: den Mangel an Pflegepersonal. «Weil es an Personal fehlt, müssen Betten geschlossen werden, womit auch die Auslastung eines Spitals sinkt und mit ihr der Versorgungsgrad der Bevölkerung.» Die anhaltende Übersterblichkeit, so gibt er zu bedenken, beziehe sich auf alle Personen, auch diejenigen, die nicht im Spital stürben.

Die Frage ist: Wäre sie vermeidbar gewesen? Kaspar Staub, der zu vergangenen wie heutigen Epidemien forscht, hat in einer vergleichenden historischen Studie die Übersterblichkeit während der Covid-Pandemie in der Schweiz, Schweden und Spanien untersucht. Darin zeigt er auch, dass die Übersterblichkeit wohl nicht unvermeidlich war: Weder Dänemark, Norwegen noch Finnland verzeichneten im Pandemiejahr 2020 eine solche. Unter den vielen Faktoren, die dafür eine Rolle spielen, wie etwa das Alter der Bevölkerung, hebt er auch hervor: «Die nordeuropäischen Länder hatten mehr Zeit, sich auf die Pandemie vorzubereiten, als südliche Länder wie Spanien oder Italien, wo Covid-19 zuerst auftrat.»

Michael Simon führt für Dänemark noch einen weiteren Faktor ins Feld. Das Land reformiert seit 2011 sein Gesundheitswesen, kleinere Spitäler werden aufgelöst und in grosse Superspitäler überführt. «Dänemark konnte in der Pandemie möglicherweise zeigen, dass Konzentration Vorteile bringt», sagt er, «das halte ich auch in der Schweiz mit Blick auf die Bettenauslastung für diskussionswürdig.»

Spitalstudie von Michael Simon: biomedcentral.com

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Kommentare

Kommentar von hab8@bluewin.ch

Sa., 28.01.2023 - 14:37

Die offensichtlichste Ursache der Übersterblichkeit, die Covid Impfung wir hier wie auch fast überall augeblendet. Weil frei nach Morgenstern: "Nicht sein kann, was nicht sein darf". Wer entdeckt den weissen Elefanten?

Kommentar von fmeister

Mo., 30.01.2023 - 09:40

Niemand bestreitet, dass die Impfung auch Nebenwirkungen verursachen kann. In Einzelfällen sind sie schwer, was für die Betroffenen schlimm ist. Aber es bleiben, so zeigen die Impfregister, die Nebenwirkungen erfassen, seltene Ausnahmen. Die Covid-Impfung ist also sicher nicht die «offensichtlichste Ursache» der Übersterblichkeit. Soviel lässt sich aufgrund des aktuellen Wissensstandes rund um Covid festhalten. Weitere Forschung ist wichtig, um Covid besser zu verstehen. Dafür ist auch wichtig, die Impfregister fortzuführen.