Pandemiebekämpfung: Nicht immer auf den Kollaps zu
«Albtraum!», «Triagen!», jeden Tag neue Horrornachrichten aus den Spitälern. Die Coronafallzahlen sind so hoch wie nie, und mit einer Positivitätsrate von achtzehn Prozent aller Getesteten haben die Behörden den Überblick über die Virusverbreitung verloren. Bereits vor zwei Wochen forderte die Science Task Force, die Ansteckungsrate müsse sofort gesenkt werden. Höchste Zeit also für griffige landesweite Massnahmen? Fehlanzeige. Erst mal wartete der Bundesrat ab. Vergangenen Freitag entschied er sich – auch auf Druck von Kantonen und Wirtschaft – gegen Massnahmen wie Homeofficepflicht oder Massentests an allen Schulen.
Inzwischen sind die Intensivpflegestationen (IPS) zu über dreissig Prozent mit Covid-Patient:innen belegt – die ganz grosse Mehrheit davon ist nicht geimpft. Auf Nachfrage der WOZ betonen die Verantwortlichen der Unikliniken Zürich, Basel, Bern und Genf, dass der Personalmangel mehr denn je das Problem sei: Aufgrund der anhaltenden Überbelastung hätten Angestellte gekündigt, ihr Pensum reduziert oder seien krankgeschrieben. Offene Stellen könne man kaum besetzen, und die Ausbildung von neuem IPS-Fachpersonal dauere zwei Jahre. Zusätzlich hätten die Spitäler jahreszeitlich bedingt sehr viele andere Patient:innen, was in der ersten Welle weniger der Fall war – wahrscheinlich dank Lockdown und verschobenen Operationen. Letzteres wird deshalb in einigen Spitälern wieder geplant oder bereits vorgenommen.
Am Dienstag wieder Medienkonferenz des Bundes: Die Task Force hat «wissenschaftlich berechtigte Zweifel», dass die aktuellen Massnahmen reichen. Die Spitäler könnten noch vor Jahresende an einen Punkt kommen, ab dem sie Behandlungsstandards grossflächig nicht mehr gewährleisten können. Die Lage ist wieder derart ausser Kontrolle, dass Massnahmen wie 2G (geimpft oder genesen) und 2G plus (zusätzlich getestet), Einschränkungen für öffentliche und private Anlässe oder Schliessungen öffentlicher Einrichtungen diskutiert werden müssen. Wollen tut das niemand, nötig wird es wohl trotzdem. Ein Blick nach Österreich zeigt: Erst nach gestaffelten Lockdowns – zuerst für Ungeimpfte, dann für alle – und einer 2G-Pflicht sinkt die Zahl der Neuansteckungen. Den sofortigen Ausbau der Massnahmen braucht es auch hierzulande.
Sollte die akute Gefahr dereinst abgewendet sein, bleibt die Frage nach einer vorausschauenden und nicht nur symptombekämpfenden Pandemiestrategie. Mittlerweile gehen Fachleute davon aus, dass es noch jahrelang Menschen mit ungenügendem Immunschutz geben wird, die schwer an Covid-19 erkranken und intensive Pflege benötigen.
Bis die Ressourcen geschaffen sind, um diese Zusatzbelastung zu bewältigen, braucht unsere Gesellschaft einen nachhaltigen und tolerierbaren Umgang mit Corona – je nachdem, wie sich die Pandemie entwickelt, vielleicht sogar darüber hinaus. Menschen wegen Überlastung auf der Intensivstation sterben zu lassen oder ihnen keine ausreichende medizinische Betreuung zu garantieren, kann aber ebenso wenig der Weg sein, wie das Personal im Gesundheits- und anderen betroffenen Bereichen immer wieder über seine Belastungsgrenzen zu bringen.
Um dies zu vermeiden, wird wohl ein gewisser milder Massnahmenmix längerfristig nötig bleiben. Das zeigt etwa das Beispiel Portugal: Jetzt, wo auch das Land mit der höchsten Impfquote Europas wieder steigende Fallzahlen vermeldet, die Hospitalisierungen aber noch tief sind, werden Massnahmen zur Eindämmung des Virus proaktiv verschärft. Dies ergibt Sinn, hinkt der Anstieg der schweren Fälle den Ansteckungszahlen doch immer etwas hinterher. Aber auch bei tiefen Infektionszahlen im Frühsommer wurden die Massnahmen vorsichtigerweise nicht komplett aufgehoben – so etwa blieb auch dort eine Maskenpflicht in Einkaufszentren bestehen.
Ob sich die Pandemie so in Schach halten lässt, muss sich zeigen. Ein speziell für die Schweiz konzipierter längerfristiger Massnahmenkatalog könnte sich als sinnvoll erweisen. Das wäre gewiss unangenehm. Aber immerhin ein ernsthafter Versuch, nicht wieder und wieder in der Spirale Richtung Kollaps zu landen.