Film: Vom Winde verweht
Wenn ein weisser Schweizer einen Spielfilm zur Flüchtlingskrise am Mittelmeer drehen will: Kann das funktionieren, aus so eklatant privilegierter Warte? Lionel Baier versucht gar nicht erst, diese Distanz zu kaschieren. Im Gegenteil, er macht sie in seinem neuen Film zum Thema. «La dérive des continents (au sud)» ist der dritte Teil einer geplanten Tetralogie, die Baier an die Ränder Europas führt; nach Polen («Comme des voleurs», 2006) und Portugal («Les grandes ondes», 2013) gehts diesmal nach Sizilien.
Es hat etwas bestechend Aufrichtiges: Baier macht keinen Hehl aus seinem komfortablen Blick als Europäer. Kein wohlfeiles Drama also, das uns im Mitgefühl für Geflüchtete bestärken würde. Stattdessen im Zentrum: Nathalie (Isabelle Carré), die im Auftrag der Europäischen Union einen offiziellen Besuch von Emmanuel Macron und Angela Merkel in einem Flüchtlingslager in Sizilien organisieren soll, zwecks Imagepflege der Festung Europa.
Ihr zur Seite stellt man ausgerechnet ihre Exgeliebte (Ursina Lardi), die als Abgesandte der deutschen Regierung in Catania eintrifft. Und dann trifft Nathalie auch noch auf ihren erwachsenen Sohn (Théodore Pellerin), der sich längst von ihr entfremdet hat und jetzt als Freiwilliger für eine Hilfsorganisation arbeitet.
Klingt alles eher privat als politisch? Das müssen ja keine Gegensätze sein. Und bei aller Leichtigkeit, die sein Film ausstrahlt, streut Baier doch auch ein paar bittere Pointen ein – bis hin zu einer furiosen Rede, in der sich alle aufgestaute Wut entlädt. Und doch: Mit seinem Fokus auf die Ebene der politischen Kommunikation und auf die Distanz zwischen Nathalie und ihrem Sohn handelt sich der Film gewisse Probleme ein.
Das zeigt sich besonders deutlich gegen Ende, als in einem Akt der Sabotage massenhaft Flüchtlingsakten vom Winde verweht werden. Ein bezauberndes Bild, zweifellos – aber es erzählt halt doch vor allem von der Katharsis zwischen Mutter und Sohn und nichts von den Menschen, deren Papiere hier durch die Luft segeln.
«La dérive des continents (au sud)». Regie: Lionel Baier. Schweiz/Frankreich 2022. Jetzt im Kino.